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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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Hauseingängen. Teilweise suchten sogar ganze Familien, ja sogar Dorfgemeinschaften, die vor Dürre, Überschwemmung oder Hungersnot geflohen waren, dort Zuflucht.
    Offiziell war es in Bombay verboten, auf der Straße zu schlafen. Die Polizei setzte dieses Verbot durch, ging dabei jedoch ähnlich pragmatisch vor wie bei der Ausführung des Prostitutionsverbots in der »Straße der Zehntausend Huren«: Tatsächlich war die Liste derer, die für das Vergehen der Obdachlosigkeit nicht bestraft wurden, ziemlich lang. Sadhus und sonstige religiöse Asketen zum Beispiel waren von dem Verbot ausgenommen. Alte, Amputierte, Kranke und Verletzte fanden zwar wenig Mitleid und wurden teilweise gezwungen, in eine andere Straße umzuziehen, aber sie wurden nicht verhaftet. Verrückte, Exzentriker und umherziehende Artisten – Musiker, Akrobaten, Jongleure, Schauspieler und Schlangenbeschwörer – bekamen gelegentlich eine Abreibung verpasst, wurden aber nie festgenommen. Und Familien, besonders solche mit kleinen Kindern, wurden meist nur streng ermahnt, nicht länger als ein paar Nächte am selben Ort zu schlafen. Auch wer eine Visitenkarte oder die Adresse seines Arbeitgebers vorweisen konnte, wurde verschont. Und die alleinstehenden Männer ohne Arbeit, die sauber aussahen, einigermaßen gebildet waren und den Beamten respektvoll begegneten, konnten sich meistens herausreden. Und natürlich war jeder, der Bakschisch bezahlen konnte, vor den »Zusammentreibern« sicher.
    Als Zielgruppe der mitternächtlichen Ordnungsaktion blieben also nur die Bettelarmen ohne Schulbildung und Familie, ohne feste Arbeit und Obdach übrig, die weder über Geld verfügten, um sich aus dem Fangnetz der Polizei freizukaufen, noch über ein Mindestmaß an Bildung, um durch Worte zu überzeugen. Nacht für Nacht wurden sie zu Dutzenden verhaftet. Manche wurden festgenommen, weil die Beschreibungen gesuchter Männer auf sie passten. Bei einigen wurden Drogen oder Diebesgut gefunden. Andere waren der Polizei bekannt und wurden routinemäßig auf Verdacht festgenommen. Doch viele waren einfach nur arm und schmutzig und mit einer Hilflosigkeit geschlagen, die ihre Gesichter verfinsterte.
    Die Stadt hatte kein Geld, um Tausende von Handschellen anzuschaffen – und sogar, wenn das Geld da gewesen wäre, hätten die Polizisten sich bestimmt nicht mit deren Gewicht belastet. Stattdessen führten sie feste Stricke aus Hanf- und Kokosfasern mit sich, mit denen sie die Verhafteten jeweils an der rechten Hand zusammenbanden.
    Das dünne Seil reichte aus, um die Männer zu fixieren, denn die Opfer eines nächtlichen Zusammentriebs waren meistens zu schwach, zu unterernährt und zu mutlos, um wegzulaufen. Sie fügten sich widerstandslos und stumm. Wenn zwischen zehn und zwanzig Männer verhaftet und gefesselt worden waren, wurden sie von der Polizeitruppe, die jeweils aus sechs bis acht Mann bestand, zu den Arrestzellen abgeführt.
    Die Polizisten waren mutig und fairer, als ich erwartet hätte. Sie traten ohne Knüppel, Gas oder Schusswaffen an, sondern waren lediglich mit einem Lathi, einem dünnen Bambusstock, bewaffnet. Da sie nicht mit Walkie-Talkies ausgestattet waren, konnten sie keine Verstärkung anfordern, wenn es Ärger gab. Und sie hatten keine Fahrzeuge für diese Aktionen, weshalb sie ihre kilometerlangen Patrouillen zu Fuß erledigen mussten. Vom Lathi machten sie zwar häufig Gebrauch, doch nur in seltenen Fällen wurde ernsthaft oder gar brutal geprügelt – anders als bei der Polizei in der modernen westlichen Stadt, in der ich aufgewachsen bin.
    Trotz allem bedeutete der Zusammentrieb für die Gefangenen tage-, wochen- oder gar monatelange Haft in Gefängnissen, die so übel waren wie überall in Asien, und die Karawanen aneinandergebundener Verhafteter, die sich nach Mitternacht durch die Stadt schleppten, waren ein Anblick, der noch trauriger und elender stimmte als mancher Leichenzug.
    Bei meinen nächtlichen Spaziergängen durch die Stadt war ich immer allein unterwegs. Meine reichen Freunde fürchteten die Armen und meine armen Freunde die Polizei. Die meisten Ausländer fürchteten alle und blieben in ihren Hotels. Und so gehörten die Straßen, deren kühle Stille ich suchte, mir ganz allein.
    Auf einem dieser Nachtspaziergänge, etwa drei Monate nach dem großen Brand, landete ich an der Ufermauer des Marine Drive. Der breite Gehweg war hier leer und sauber. Eine sechsspurige Straße trennte die Strandpromenade von einem bis zum

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