Shantaram
Wageninnere zu blicken. Der Mann auf der Rückbank war Mitte, Ende sechzig, und sein Gesicht, von den Straßenlampen halb erleuchtet, war hager, markant und intelligent, mit einer langen, dünnen Nase und hohen Wangenknochen. Ich war fasziniert von seinen leuchtend bernsteingelben Augen, aus denen Vergnügen, Mitgefühl und noch etwas anderes sprachen – Skrupellosigkeit vielleicht oder auch Liebe. Bart und Kopfhaar waren kurz geschoren und grauweiß.
»Mr. Lin?«, fragte er. Seine Stimme war tief und sonor und strahlte eine ruhige Gewissheit aus. »Sehr erfreut. Ja, wirklich sehr. Ich habe Gutes über Sie gehört. Es ist immer eine Freude, Gutes zu hören – und eine noch größere, wenn es hier in unserem Bombay über Ausländer gesagt wird. Vielleicht haben Sie auch schon von mir gehört. Ich bin Abdel Khader Khan.«
Natürlich hatte ich von ihm gehört. Jeder in Bombay kannte Abdel Khader Khan. Sein Name tauchte regelmäßig in den Zeitungen auf. Man sprach über ihn auf den Basaren, in den Nachtclubs, in den Slums. Die Reichen bewunderten und fürchteten ihn. Die Armen achteten und verehrten ihn. Seine Vorträge über Theologie und Ethik, die er im Innenhof der Nabila-Moschee in Dongri hielt, waren berühmt und lockten Schüler und Studenten jeder Glaubensrichtung an. Und man hörte viel über seine Freundschaften zu prominenten Künstlern, Geschäftsleuten und Politikern. Khader Khan war auch einer der Bombayer Mafiapaten und Mitbegründer des Rätesystems, durch das Bombay in verschiedene Machtbereiche aufgeteilt war, die jeweils einem Mafiaboss unterstanden. Das System war vernünftig und allseits sehr erwünscht, weil es nach einem Jahrzehnt blutiger Machtkämpfe in der Bombayer Unterwelt Ordnung und relativ stabilen Frieden gestiftet hatte. Abdel Khader Khan war ein mächtiger, ein gefährlicher und ein herausragender Mann.
»Ja, Sir«, erwiderte ich und stellte erschüttert fest, dass ich unwillkürlich das Wort Sir benutzt hatte. Ich hasste dieses Wort. Im Strafblock waren wir jedes Mal verprügelt worden, wenn wir einen Wärter nicht mit Sir angesprochen hatten. »Natürlich kenne ich Ihren Namen. Die Leute nennen Sie Khaderbhai.«
Das Wort bhai hinter seinem Namen bedeutete älterer Bruder und war ein respektvoller Kosename. Er lächelte und nickte langsam, als ich es sagte: Khaderbhai.
Der Fahrer verstellte seinen Rückspiegel und fixierte mich darin mit ausdruckslosem Blick. An dem Spiegel hing eine Girlande aus frischem Jasmin, deren Duft nach der kühlen Seebrise etwas Berauschendes, fast Betäubendes hatte. Als ich mich so ins Wageninnere beugte, nahm ich mich selbst und meine Umgebung plötzlich viel bewusster wahr: meine gebückte Haltung, die Furchen auf meiner gerunzelten Stirn, als ich das Gesicht anhob, um ihm in die Augen zu sehen, die Dachrinne des Autos unter meinen Fingern, den Aufkleber auf dem Armaturenbrett, auf dem stand: GOTT SEI DANK FÜR DIESES AUTO. Kein Mensch außer mir war auf der Straße, keine Autos fuhren vorbei. Bis auf das Schnurren des Motors und das gedämpfte Tosen der Wellen herrschte Stille.
»Sie sind der Arzt in der Barackensiedlung von Colaba, Mr. Lin. Als Sie dort eingezogen sind, habe ich es gleich erfahren, denn es ist ungewöhnlich, dass ein Ausländer in der Barackensiedlung lebt. Sie gehört mir, wissen Sie. Das Land, auf dem diese Hütten stehen – das gehört mir. Es gefällt mir, dass Sie dort arbeiten.«
Ich schwieg verblüfft. Der Slum, in dem ich lebte, auch Zhopadpatti oder Barackensiedlung genannt, ein halber Quadratkilometer mitsamt fünfundzwanzigtausend Männern, Frauen und Kindern – das alles gehörte ihm? Ich lebte seit Monaten dort, und Khaderbhais Name war oft gefallen, doch nie hatte jemand gesagt, dass der Slum ihm gehörte. Das kann doch nicht sein, hörte ich mich denken. Wie kann ein einzelner Mann so einen Ort und all die dazugehörigen Menschenleben besitzen?
»Ich, äh, ich bin eigentlich gar kein Arzt, Khaderbhai«, brachte ich schließlich heraus.
»Vielleicht haben Sie deshalb so viel Erfolg bei der Behandlung, Mr. Lin. Ärzte gehen nicht gern in die Barackensiedlung. Wir können die Menschen zwar zwingen, nichts Böses zu tun, aber wir können sie nicht zwingen, Gutes zu tun, meinen Sie nicht auch? Mein junger Freund Abdullah hat Sie drüben auf der Mauer erkannt, als wir an Ihnen vorbeigefahren sind. Ich habe den Fahrer Ihretwegen wenden lassen. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir. Ich möchte Ihnen etwas
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