Shantaram
Straße. Ich schaute ihm nach, wie er in einer schmalen Gasse gegenüber dem Gefängnis verschwand. Er war draußen. Nur ich war noch drinnen.
Ich kraxelte über die blaugraue Sandsteinbrüstung und griff nach dem Verlängerungskabel. Die Füße an die Wand gedrückt, das Kabel in beiden Händen, den Rücken zur Straße, sah ich zu dem linken Wachturm hinüber. Der Wachtposten telefonierte und gestikulierte dabei mit der freien Hand. Über seiner Schulter hing ein Automatikgewehr. Ich blickte zu dem anderen Wachturm. Der Posten dort war ebenfalls mit einem Gewehr bewaffnet. Er rief gerade einem anderen Wachmann im inneren Eingangsbereich des Gefängnisses etwas zu. Er lachte und war ganz entspannt. Ich war unsichtbar. Ich stand auf der Frontmauer des härtesten Hochsicherheitsgefängnisses im ganzen Staat und war unsichtbar.
Ich drückte mich mit beiden Beinen ab und begann, mich herunterzulassen, doch meine Hände rutschten ab – die Angst, der Schweiß –, und ich verlor den Halt. Es war eine sehr hohe Mauer, und ein Sturz wäre tödlich gewesen. In panischer Angst und Verzweiflung griff ich noch einmal nach dem Kabel und erwischte es tatsächlich. Meine Hände bremsten mich ab und verlangsamten meinen Fall. Ich spürte, wie mir das Kabel die Hände versengte. Ich spürte, wie mir die Haut von den Fingern und Handflächen gefetzt wurde. Und dann schlug ich auf dem Boden auf, rappelte mich hoch und taumelte über die Straße. Ich war frei.
Ich drehte mich noch einmal um. Das Verlängerungskabel baumelte an der Mauer. Die Wachtposten auf ihren Türmen redeten immer noch. Auf der Straße fuhr langsam ein Auto vorbei, und der Fahrer trommelte im Takt eines Liedes mit den Fingern aufs Lenkrad. Ich wandte mich um, ging weiter, die schmale Straße entlang, schritt in ein neues Leben, das Leben eines Flüchtlings. In ein Leben, das mich alles kosten würde, was mir je lieb und teuer gewesen war.
Mit den bewaffneten Überfällen hatte ich in Menschen Angst erzeugt, und von diesem Zeitpunkt an, während der Überfälle selbst, meiner Haftzeit und meines Lebens auf der Flucht erzeugte das Schicksal Angst in mir. Meine Nächte waren von dieser Angst durchdrungen, und manchmal fühlte es sich an, als verstopfe sie meine Adern, meine Atemwege. Die Angst, die ich anderen eingejagt hatte, war zu zehn, zu fünfzig, zu tausend Schrecken geworden, die mich in den einsamsten Stunden der Nacht heimsuchten und mit Grauen erfüllten.
Arbeit und Alltagssorgen, die mich in den ersten Monaten in Bombay beschäftigten, überlagerten tagsüber diese Angst; am Tag hatte ich mein Leben in ein Korsett aus Pflichten, Bedürfnissen und kleinen Vergnügungen gezwängt. Doch nachts, wenn der Slum schlief und träumte, kroch mir das Entsetzen unter die Haut. Mein Herz zog sich in die schwarze Höhle der Erinnerung zurück, und ich fand keine Ruhe. Während der Rest der Welt schlief, streifte ich nachts durch Bombay. Stundenlang wanderte ich durch die Straßen und zwang mich dazu, mich nicht umzudrehen nach den Wachtürmen und dem Kabel an der hohen Mauer, die es nur noch in meiner Erinnerung gab.
Wenigstens war es nachts still in der Stadt. Damals galt in Bombay ab Mitternacht eine polizeilich verhängte Ausgangssperre. Gegen halb zwölf sammelten sich Polizeijeeps in den Hauptstraßen der Innenstadt, und die Schließung der Restaurants, Bars, Geschäfte, selbst der kleinen Läden auf den Gehwegen, die Betel und Zigaretten verkauften, wurde durchgesetzt. Bettler, Junkies und Nutten, die sich noch nicht nach Hause oder in irgendeinen Unterschlupf verdrückt hatten, wurden von den Gehwegen verjagt. Vor den Schaufenstern wurden stählerne Rollläden heruntergelassen. In den Märkten und Basaren warf man weiße Kattuntücher über die Tische. Ruhe und Leere breiteten sich aus. Nach dem Trubel und Gewimmel, das tagsüber in Bombay herrschte, hatte diese menschenleere Stille etwas Unwirkliches. Nacht für Nacht war Bombay geräuschlos, schön und bedrohlich. Bombay wurde zum Spukhaus.
Ab Mitternacht patrouillierten Polizeitrupps in Zivil, die »Zusammentreiber«, zwei, drei Stunden lang durch die leeren Straßen und hielten nach Kriminellen, Junkies, Obdachlosen und sonstigen Verdächtigen Ausschau. Natürlich war mehr als die Hälfte der Einwohner Bombays obdachlos. Viele von ihnen lebten, aßen und schliefen auf der Straße, und nachts lagen sie unter dünnen Laken und Decken, die sie vor der feuchten Nachtluft schützten, auf Gehwegen und in
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