Shantaram
Horizont reichenden Halbrund des Wohlstands: prächtige Wohnhäuser, teure Apartments, Konsulargebäude, Nobelrestaurants, Hotels mit Blick auf das schwarze wogende Meer.
In dieser Nacht waren wenige Autos auf dem Drive unterwegs; alle fünfzehn, zwanzig Minuten tuckerte eines gemächlich an mir vorbei. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren wenige Fenster erleuchtet. Alles war still; ich hörte nur die zornigen Böen des kühlen Nachtwinds, der saubere, salzige Luft in die Stadt wehte. Das Meer war lauter als die Stadt.
Einige meiner Freunde aus dem Slum sorgten sich, wenn ich nachts allein durch die Straßen ging. Geh nicht nachts spazieren, sagten sie. Nachts bist du in Bombay nicht sicher. Doch ich hatte keine Angst vor der Stadt, und auf den Straßen fühlte ich mich sicher. So schwierig und ruhelos mein Leben auch war, die Stadt nahm es in sich auf und fügte es den Millionen anderer Leben hinzu, als ob … als ob es dort hingehörte wie jedes andere auch.
Meine neue Arbeit als Slumarzt verstärkte dieses Zugehörigkeitsgefühl. Ich ging in meiner neuen Aufgabe auf, besorgte mir Lehrbücher über Diagnostik und studierte sie abends bei Lampenlicht in meiner Hütte. Ich trug einen bescheidenen Vorrat an Medikamenten, Salben und Verbandsmaterial zusammen, die ich von meinen Einnahmen aus den Schwarzmarktgeschäften mit Touristen in Apotheken kaufte. Und ich lebte weiter in diesem Elendsquartier, auch als ich genug Geld verdient hatte, um mir etwas Besseres zu suchen. Ich blieb in meiner engen kleinen Hütte wohnen, als ich längst in eine bequeme Wohnung hätte ziehen können.
Ich ließ zu, dass mein Leben in dem brodelnden, wirbelnden Überlebenskampf von fünfundzwanzigtausend Menschen aufging. Ich band mich an Prabaker, Johnny Cigar und Qasim Ali Hussein. Und obwohl ich versuchte, nicht an Karla zu denken, riss meine Liebe mit Klauen an mir. Ich küsste den Wind. Ich sprach ihren Namen, wenn ich allein war.
Als ich auf der Ufermauer saß, strich mir die kühle Brise über Gesicht und Oberkörper, weich wie Wasser aus tönernen Matkas, und ich hörte nichts als meinen Atem im Wind und die Brandung, die drei Meter unterhalb auf die Felsen schlug. Die Wellen schäumten und gischteten bis zu mir hoch, als wollten sie an mir ziehen. Lass los. Lass los. Bring es hinter dich. Lass dich einfach fallen und stirb. Es war nicht die lauteste Stimme in meinem Kopf, aber sie wurzelte in einem meiner tiefsten Gefühle – der Scham, die meine Selbstachtung erstickte. Wer von Scham erfüllt ist, kennt diese Stimme: Du hast alle enttäuscht. Du verdienst es nicht zu leben. Die Welt stünde ohne dich besser da … Und so sehr ich auch versuchte, dazuzugehören, mich durch meine Arbeit als Slumarzt zu rehabilitieren, mir durch die alberne Vorstellung meiner Liebe zu Karla zu helfen – die Wahrheit war, dass ich mit meiner Scham allein war, allein und verloren.
Die Wellen brandeten donnernd gegen die Felsen. Nur einmal kurz abstoßen, und alles wäre vorbei. Ich spürte es förmlich – den Sturz, den Aufprall meines Körpers auf den Felsen, die schlüpfrige Kälte des Ertrinkens. So einfach.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Leicht und sanft, doch zugleich fest genug, um mich zu halten. Erschrocken wandte ich mich um. Ein großer junger Mann stand vor mir. Er ließ die Hand auf meiner Schulter liegen, als wolle er mir Halt geben; als hätte er meine Gedanken gerade gelesen.
»Sie sind Mr. Lin, wenn ich mich nicht täusche«, sagte er leise. »Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern – ich heiße Abdullah. Wir haben uns bei den Stehenden Babas kennen gelernt.«
»Ja, natürlich«, stammelte ich. »Sie haben uns geholfen, haben mir geholfen. Ich erinnere mich sehr gut an Sie. Sie sind gegangen – waren verschwunden –, bevor ich mich richtig bedanken konnte.«
Er lächelte ungezwungen, nahm die Hand von meiner Schulter und fuhr sich durch das dichte schwarze Haar.
»Nicht nötig. Sie würden in Ihrem Land das Gleiche für mich tun, nicht wahr? Kommen Sie, da ist jemand, der Sie kennen lernen möchte.«
Er deutete auf ein Auto, das zehn Meter weiter am Straßenrand parkte. Es musste von hinten gekommen sein. Der Motor lief noch, doch irgendwie hatte ich es überhört. Es war ein Ambassador, Indiens bescheidene Version einer Luxuskarosse. Ich sah zwei Männer darin sitzen, den Fahrer und einen Passagier auf der Rückbank.
Abdullah öffnete die hintere Tür, und ich bückte mich, um ins
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