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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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steinernen Damm mit dem Festland verbunden war. Auf diesem breiten Weg drängten sich – sofern die Gezeiten es zuließen – von morgens bis abends Pilger und Touristen. Bei Flut war der Weg unpassierbar und die Insel vom Festland abgeschnitten. Von der Böschungsmauer aus betrachtet, wirkte die Moschee nachts, beleuchtet von Messinglaternen an den Marmormauern, die grünes und gelbes Licht verströmten, wie ein großes vor Anker liegendes Schiff. Die im Mondlicht weiß leuchtenden Torbögen und Kuppeln wurden dann zu Segeln dieses mystischen Schiffs und die Minarette zu aufragenden Masten.
    In dieser Nacht stand der abnehmende, aber noch fast kreisrunde gelbe Mond, der im Slum trauernder Mond genannt wurde, hoch am Himmel über der Moschee. Ein leichter Wind wehte übers Wasser, doch die Luft war warm und feucht. Tausende von Fledermäusen flatterten an den Stromleitungen über unseren Köpfen entlang wie Notenzeichen auf Notenpapier. Ein kleines Mädchen, das schon längst ins Bett gehört hätte, aber immer noch Jasmingirlanden verkaufte, kam auf uns zu und reichte Abdullah eine der Girlanden. Er griff in die Tasche, um ihr Geld zu geben, doch sie lehnte es lachend ab und spazierte davon, den Refrain eines Bollywood-Filmsongs trällernd.
    »Es gibt keinen schöneren Vertrauensbeweis als die Großzügigkeit der wirklich Armen«, sagte Abdullah in seinem ruhigen, angenehmen Tonfall. Er schien niemals lauter zu sprechen.
    »Ihr Englisch ist sehr gut«, sagte ich, aufrichtig beeindruckt von diesem klugen Gedanken und der Art, wie er ihn in Worte gefasst hatte.
    »Nein, eigentlich nicht. Ich kannte einmal eine Frau, die mir diesen Satz beigebracht hat«, erwiderte er. Ich wartete darauf, dass er weitersprach. Er zögerte, den Blick aufs Meer gerichtet, doch dann wechselte er das Thema. »Sagen Sie, Mr. Lin, damals bei den Stehenden Babas, als der Mann mit dem Schwert auf Sie zukam – was hätten Sie getan, wenn ich nicht zufällig da gewesen wäre?«
    »Ich hätte mit ihm gekämpft.«
    »Ich glaube …« Er wandte sich zu mir und sah mir direkt in die Augen. Ich spürte, wie mir plötzlich eine unerklärliche Angst die Kopfhaut zusammenzog. »Ich glaube, er hätte Sie getötet. Sie wären ermordet worden, und jetzt wären Sie tot.«
    »Nein. Er hatte zwar ein Schwert, aber er war alt und verrückt. Ich hätte ihn besiegt.«
    »Ja«, sagte er, ohne zu lächeln. »Wahrscheinlich haben Sie recht – Sie hätten ihn besiegt. Aber die anderen, das Mädchen und Ihr indischer Freund, von denen wäre ganz sicher einer verletzt oder sogar getötet worden. Selbst wenn Sie überlebt hätten. Wenn das Schwert Sie nicht getroffen hätte, hätte es einen von den anderen getroffen. Entweder Sie oder Ihre Freunde – einer wäre jetzt tot.«
    Nun war es an mir zu schweigen. Nach diesem unbestimmten Gefühl der Angst schrillten jetzt alle Alarmglocken bei mir, und mein Herz hämmerte. Dieser Mann sagte, er habe mir das Leben gerettet, doch es hörte sich wie eine Drohung an. Das gefiel mir ganz und gar nicht, und ich merkte, wie Wut in mir aufstieg. Meine Muskeln spannten sich an, kampfbereit, und ich blickte Abdullah fest in die Augen.
    Er lächelte und legte mir die Hand auf die Schulter, genau wie er es vor knapp einer Stunde an einer anderen Ufermauer getan hatte, am Marine Drive. Und ebenso plötzlich, wie sich diese knisternde, intuitive Wachsamkeit eingestellt hatte, verlor sie sich auch wieder. Erst Monate später sollte ich mich wieder daran erinnern.
    Als ich mich umdrehte, sah ich, wie der Polizist salutierte und sich von Khaders Auto entfernte.
    »Khaderbhai hat diesem Bullen das Bestechungsgeld aber ziemlich auffällig überreicht.«
    Abdullah lachte, und ich musste daran denken, wie ich ihn das erste Mal hatte lachen hören, in der Haschischhöhle der Stehenden Babas. Es war ein gutes Lachen, arglos und vollkommen unbefangen, und es brachte ihn mir plötzlich näher.
    »Wir haben ein Sprichwort im Persischen: Manchmal muss der Löwe brüllen, um das Pferd an seine Angst zu erinnern. Dieser Polizist macht hier schon seit einer Weile Schwierigkeiten. Die Leute haben keinen Respekt vor ihm, und das kränkt ihn. Und weil er gekränkt ist, macht er Probleme. Je mehr Probleme er macht, desto weniger respektieren ihn die Leute. Aber jetzt haben sie dieses dicke Bakschisch gesehen, viel mehr als ein Polizist wie er normalerweise bekommt, und deshalb werden sie ihn in Zukunft zumindest ein bisschen respektieren. Sie werden

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