Shantaram
hatte –, und ihr Mund bot ein erhabenes Schauspiel perfekter Form und Bewegung. Ich hätte ihr Gesicht, ihre Augen, ihre Lippen auch mit der gleichen Hingabe betrachtet, wenn sie aus einer alten Zeitung vorgelesen hätte. »Warum macht sie das?«
»Was?« Karla verengte die Augen.
»Warum bleibt sie im Verborgenen?«
»Ich glaube, das weiß keiner.« Sie zog zwei Beedies aus der Tasche, zündete sie an und reichte mir eines. Ihre Hände wirkten zittrig. »Wie ich schon sagte: Die Leute erzählen die verrücktesten Sachen über sie. Zum Beispiel, dass sie durch einen Unfall furchtbar entstellt ist und deshalb ihr Gesicht verbirgt. Auf den Fotos sind die Narben angeblich retuschiert. Andere behaupten, sie hätte Lepra oder irgendeine andere Krankheit. Ein Freund von mir meint, es gebe sie in Wirklichkeit gar nicht. Er sagt, das sei alles eine Lüge, eine Art Verschwörung, um zu verschleiern, wer diesen Laden tatsächlich führt und was da abläuft.«
»Und was glaubst du?«
»Ich … ich habe schon mit ihr geredet, durch den Sichtschutz. Ich glaube, dass sie geradezu krankhaft eitel ist, und dass sie sich hasst, weil sie altert. Ich glaube, sie kann es nicht ertragen, nicht mehr perfekt zu sein. Man hört oft, dass sie früher sehr schön gewesen sein soll. Auf den Fotos wirkt sie nicht älter als siebenundzwanzig, allerhöchstens dreißig: die Haut ebenmäßig, kein einziges Fältchen. Keine Schatten unter den Augen. Jedes einzelne schwarze Haar an der richtigen Stelle. Ich glaube, sie ist dermaßen in ihre eigene Schönheit verliebt, dass sie sich niemandem je so zeigen wird, wie sie wirklich ist. Ich glaube, sie ist … Es ist, als wäre sie verrückt vor lauter Selbstverliebtheit. Wenn sie neunzig ist, wird man auf diesen monatlichen Fotos bestimmt immer noch diese dreißigjährige Maske sehen.«
»Woher weißt du so viel über sie?«, fragte ich. »Wie bist du ihr begegnet?«
»Ich bin Vermittlerin. Es war Teil meiner Arbeit.«
»Das ist nicht sonderlich aufschlussreich.«
»Wie viel musst du denn wissen?«
Es war eine einfache Frage, auf die es eine einfache Antwort gab – Ich liebe dich, und ich will alles wissen –, doch ihre Stimme klang hart, und in ihren Augen lag ein kalter Schimmer, und ich zögerte.
»Ich will nicht schnüffeln, Karla. Ich wusste nicht, dass das ein heikles Thema ist. Ich kenne dich jetzt seit über einem Jahr, und ich habe dich zwar nicht jeden Tag gesehen, nicht mal jeden Monat, aber trotzdem – ich habe dich nie gefragt, was du eigentlich machst oder wie du dein Geld verdienst. Übertriebene Neugier kann man mir wohl kaum vorwerfen.«
»Ich führe Leute zusammen«, sagte sie, wieder etwas entspannter, »und sorge dafür, dass sie sich gut amüsieren und in die richtige Stimmung für Geschäftsabschlüsse kommen. Ich werde dafür bezahlt, die Leute bei Laune zu halten, damit sie geschäftsfreudig bleiben, und ihnen zu vermitteln, was immer sie wollen. Einige – nicht wenige – wollen einen kleinen Aufenthalt in Madame Zhous Palace. Die wahre Frage ist aber doch, warum die Leute so verrückt nach ihr sind. Sie ist gefährlich. Meiner Meinung nach ist sie wirklich geisteskrank. Aber die Leute würden fast alles dafür geben, ihr wenigstens einmal zu begegnen.«
»Und was ist deine Theorie?«
Sie seufzte entnervt.
»Keine Ahnung. Es ist nicht nur der Sex. Klar, die hübschesten Ausländerinnen Bombays arbeiten für sie, und Madame Zhou lässt sie ein paar sehr spezielle, ziemlich perverse Techniken erlernen. Aber die Leute würden auch zu ihr gehen, wenn es keine tollen Mädchen dort gäbe. Ich begreife es nicht. Ich mache, was die Leute wollen, und bringe sie zum Palace. Ein paar haben sogar schon persönlich mit Zhou gesprochen, durch den Sichtschutz wie ich. Ich habe mir das nie erklären können: Sie kommen aus dem Palace raus, als hätten sie eine Audienz bei Jeanne d’Arc gehabt. Sind richtig high. Das geht mir nicht so. Ich finde sie unheimlich, und zwar schon immer.«
»Du magst sie nicht besonders, was?«
»Viel schlimmer, Lin. Ich hasse sie. Ich hasse sie, und ich wünschte, sie wäre tot.«
Jetzt war es an mir, in Schweigen zu verfallen. Ich umhüllte mich mit Stille wie mit einem Tuch und blickte an Karlas sanftem Profil vorbei auf die beliebige Schönheit der Straße. Madame Zhous Geheimnis war mir damals einerlei. Die Frau interessierte mich bestenfalls im Zusammenhang dieser Aktion für Karla. Ich war in die schöne Schweizerin verliebt, die neben
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