Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
Vom Netzwerk:
mit der ich den Arm des Mannes vor seiner Brust ruhig stellte. Als ich mich seinem gebrochenen Bein zuwandte, erhob sich bei den demolierten Autos ein wildes Gebrüll und Gezeter, das mich zum Aufspringen veranlasste.
    Zehn oder mehr Männer versuchten den Fahrer des Ambassadors aus seinem Wagen zu zerren. Er war ein Schrank von einem Mann und wohl anderthalb mal so schwer wie ich, mit einer doppelt so breiten Brust. Er stemmte seine kräftigen Beine fest auf den Boden des Fahrzeugs, drückte den einen Arm gegen das Dach und hielt mit der anderen Hand das Lenkrad umklammert. Nach kurzem, heftigem, aber fruchtlosem Bemühen ließ die wütende Menge von ihm ab und wandte sich dem Mann auf dem Rücksitz zu. Dieser war untersetzt und breitschultrig, aber deutlich schmaler als der Fahrer. Der Mob zerrte ihn vom Sitz und drückte ihn mit dem Rücken gegen das Auto. Er hob schützend die Arme vors Gesicht, doch die Leute begannen an ihm zu reißen und mit den Fäusten auf ihn einzuschlagen.
    Die beiden Männer waren Afrikaner, vermutlich aus Nigeria. Während ich das Ganze vom Gehweg aus beobachtete, fiel mir ein, wie schockiert und beschämt ich vor knapp anderthalb Jahren gewesen war, am ersten Tag von Prabakers Führung durch die dunkle Seite der Stadt, als ich einen ähnlich wütenden Mob erlebt hatte. Ich erinnerte mich, wie hilfos und feige ich mich gefühlt hatte, als die Menge den übel zugerichteten Mann wegtrug. Damals hatte ich mir einzureden versucht, dass das hier nicht meine Kultur sei, nicht meine Stadt und dass die Auseinandersetzung dort nichts mit mir zu tun habe, dass sie mich nichts anginge. Doch jetzt, anderthalb Jahre später, war die indische Kultur meine eigene geworden, und ich fühlte mich zu diesem Teil der Stadt zugehörig, zu diesem Schwarzmarktrevier – meinem Revier. Hier arbeitete ich jeden Tag, und ich kannte sogar einige Männer aus der mordlustigen Menge. Ich konnte einen derartigen Lynchmord nicht noch einmal geschehen lassen, ohne wenigstens den Versuch zu machen, dem Attackierten zu helfen.
    Ich stürzte mich in das Getümmel, noch lauter als alle anderen brüllend, und begann, einzelne Männer aus der krakeelenden Menge herauszuziehen.
    »Brüder! Brüder! Nicht schlagen! Hört auf! Bringt ihn nicht um!«, schrie ich auf Hindi.
    Es war eine mühsame Angelegenheit. Die Meisten ließen sich tatsächlich aus der Menschentraube herauszerren. Zunächst wenigstens. Ich hatte starke Arme, und die Männer spürten die Kraft, mit der sie weggezogen wurden. Doch ihre Mordlust trieb sie rasch wieder in den Tumult hinein, und ich spürte, wie ihre Fäuste von allen Seiten auf mich niedertrommelten und ihre Finger sich in mein Fleisch bohrten. Schließlich gelang es mir, mich zu dem Mann von der Rückbank vorzuarbeiten und mich zwischen ihn und die Anführer des Mobs zu schieben. Den Rücken an das Auto gepresst, hob der Mann die Fäuste, als wolle er weiterkämpfen. Sein Gesicht war blutig, sein Hemd zerrissen und mit tiefrotem Blut verschmiert. Er keuchte mit zusammengebissenen Zähnen, und seine Augen waren vor Angst weit aufgerissen. Doch in seiner finsteren Miene und seinem grimmigen Zähneblecken lagen Mut und Entschlossenheit.
    Er war ein Kämpfer, und er würde kämpfen bis zum bitteren Ende.
    Ich erfasste die ganze Situation mit einem Blick, stellte mich neben ihn und drehte mich zu seinen Angreifern um. Die Hände bittend und beschwichtigend erhoben, rief ich den gewalttätigen Männern zu, dass sie aufhören sollten.
    Als ich losgerannt war, um meinen Rettungsversuch zu starten, hatte ich die Vision gehabt, die Menge würde sich vor mir teilen und die Männer würden auf mich hören und zerknirscht die Steine fallen lassen. Durch meinen beherzten Einsatz umgestimmt würde der Mob mit niedergeschlagenen Augen abziehen. Wenn ich heute an diesen Moment und die damit verbundene Gefahr zurückdenke, gebe ich mich immer noch gerne der Wunschvorstellung hin, dass meine Stimme und mein Blick die Haltung der Männer verändert hätten und die hasserfüllte Meute sich erniedrigt und beschämt zerstreut hätte. In Wahrheit zögerten die Männer aber nur einen Augenblick, um sich dann erneut auf ihr Opfer – und mich dazu – zu stürzen, krakeelend, zischend, brüllend, rasend. Nun mussten wir beide um unser Leben kämpfen.
    Ironischerweise wirkte sich die Vielzahl der Angreifer zu unseren Gunsten aus. Die Wagen hatten sich l-förmig ineinander verkeilt, und in diesem L saßen wir fest. Die Menge

Weitere Kostenlose Bücher