Shantaram
Herausforderer, die den Mut und die Kraft ihrer Rivalen auf die Probe stellten. Plätze in der Nähe des Stahltors, möglichst weit von der Toilette entfernt, standen hoch im Kurs. Aber auch noch am üblen Ende des Gangs, wo Scheiße und Pisse in einer widerwärtigen, stinkenden Brühe über den Boden schwappten, kämpfte man um jeden Quadratzentimeter, wo die Jauche ein klein wenig facher stand.
Ein paar von denen, die ganz am Ende des Gangs Tag und Nacht knöcheltief in der Scheiße stehen mussten, sanken schließlich zu Boden und starben. Während meiner Zeit dort starb ein Mann direkt im Gefängnis, und mehrere andere, die ich nicht wiederbeleben konnte, waren dem Tod so nah, als sie schließlich hinausgetragen wurden, dass sie das Bewusstsein nicht mehr wiedererlangten. Wieder andere waren aber zornig und tollkühn genug, sich von Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde, Meter um Meter, Tag um Tag und Mann um Mann einen Weg durch die Eingeweide der Beton-Anakonda bis zu einem Platz durchzuschlagen, wo sie stehen und weiterleben konnten, bis die Bestie sie durch dieselben Stahlkiefer wieder ausspie, durch die sie sich ihr Leben einverleibt hatte.
Wir bekamen eine Mahlzeit pro Tag, nachmittags um vier. Meistens gab es Dhal und Roti oder Reis mit einer dünnen Currysoße. Frühmorgens bekamen wir außerdem noch Chai und eine Scheibe Brot. Die Häftlinge versuchten, zwei geordnete Reihen zu bilden: eine zum Tor, wo die Polizisten das Essen ausgaben, und eine wieder zurück. Aber das Gedränge, der verzweifelte Hunger und die Gier einiger weniger verursachten bei jeder Mahlzeit ein Chaos. Viele bekamen gar nichts ab. Manche hungerten einen ganzen Tag oder noch länger.
Jedem Gefangenen wurde bei seiner Einlieferung ein flacher Aluminiumteller ausgehändigt. Der Teller war sein einziger rechtmäßiger Besitz. Es gab weder Besteck – wir aßen mit den Händen – noch Tassen: Der Chai wurde in die Teller geschöpft, und wir schlürften ihn, indem wir den Mund in die Lache hielten. Die Teller erfüllten aber andere Zwecke, wir bastelten zum Beispiel provisorische Kocher aus ihnen. Wenn man zwei Aluminiumteller v-förmig verbog und als Gestell benutzte, konnte man einen dritten Teller darauflegen. Brannte unter diesem flachen Teller eine Feuerquelle, konnten wir Tee oder Essen aufwärmen. Der ideale Brennstoff war eine flache Gummisandale. Zündete man einen solchen Gummischuh am einen Ende an, brannte er langsam und gleichmäßig bis zum anderen Ende durch. Der entstehende Rauch war beißend und mit fettigem Ruß gesättigt, der sich überall absetzte. Im Ermittlungsraum, wo allabendlich zwei dieser Kocher brannten, waren der schmutzige Boden und die Wände genauso schwarz wie die Gesichter der Männer, die dort hausten.
Die Kocher waren eine hervorragende Einkommensquelle für die Platzhirsche des Ermittlungsraums: Sie verkauften den solventen Männern in Zelle eins Chai und aufgewärmte Essensreste. Tagsüber erlaubten die Wärter die Lieferung von Essen und Getränken – für diejenigen, die es sich leisten konnten –, doch nachts kam nichts durchs Tor. Die fünfzehn Prinzen, die nicht knauserten, wenn es um ihren Komfort ging, hatten sich von den Polizisten gegen ein Bestechungsgeld einen kleinen Kochtopf sowie mehrere Plastikflaschen und Behälter besorgen lassen, in denen sie Getränke und Nahrungsmittel aufbewahren konnten. So kamen die Prinzen auch dann noch in den Genuss von heißem Chai und kleinen Mahlzeiten, wenn die Lieferungen abends eingestellt worden waren.
Da die Aluminiumteller aber irgendwann spröde wurden und auseinanderfielen, konnten sie nur eine bestimmte Zeitlang als Kocher verwendet werden. Neue Teller standen daher hoch im Kurs. Ebenso wie Essensreste, Chai und Gummisandalen, die ebenfalls zu Geld gemacht werden konnten. Die Schwächsten in der Kette verloren deshalb nicht nur ihre Sandalen, sondern auch ihre Teller und ihr Essen. Wer das Herz hatte, ihnen zu helfen, indem er sie seinen Teller mitbenutzen ließ, musste sein Essen hastig hinunterschlingen und den Teller dann weiterreichen, damit er wieder benutzt werden konnte. Auf diese Weise aßen während der sechs oder sieben Minuten, die für die Essensausgabe am Stahltor vorgesehen waren, oft bis zu vier Leute von einem Teller.
Jeden Tag sah ich in die Augen hungernder Männer. Ich sah, wie sie andere beobachteten, die sich ihr heißes Essen zu hastig mit den Fingern in den Mund schaufelten, während die Polizisten die letzten
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