Shantaram
hinwegsahen. Man konnte also mit einem markierten Pass nicht aus Indien ausreisen, auf Inlandsreisen aber dem Minimum an gesetzlichen Bestimmungen genügen, an die sich jeder Hotelchef halten musste.
Unmarkierte Pässe, mit denen man die erste Kontrollinstanz am Zoll passiert hatte, wurden bei den Fluggesellschaften einer zweiten Kontrolle unterzogen. Alle größeren Fluggesellschaften führten nämlich eigene Listen heißer oder markierter Pässe. Passinhaber, die auf den schwarzen Listen der Fluggesellschaften gelandet waren, galten als kreditunwürdig, hatten auf die eine oder andere Weise versucht, die Fluggesellschaft zu betrügen, oder waren während eines Flugs gewalttätig geworden. Schmugglern war natürlich daran gelegen, von Flugpersonal, Zollbeamten und Polizei lediglich routinemäßig gecheckt zu werden, weshalb ein markierter Pass für sie nutzlos war. Deshalb hatte Abdul Ghani auch in den Niederlassungen der meisten großen Fluggesellschaften in Bombay Agenten sitzen, die Namen und Nummern der neu erstandenen Pässe kontrollierten und meldeten, welche markiert waren. Bücher, die beide Kontrollinstanzen durchlaufen hatten und für gut befunden worden waren – durchschnittlich etwas weniger als die Hälfte der eingereichten Pässe –, wurden von Khaders Kurieren verkauft oder selbst benutzt.
Die Kunden, die Ghanis illegale Pässe kauften, ließen sich in drei Kategorien unterteilen. Die erste Gruppe waren Wirtschaftsflüchtlinge, die der Hunger aus ihrer Heimat vertrieb oder die einfach in einem anderen Land besser leben wollten: Türken etwa, die in Deutschland arbeiten wollten, Albanier, die es nach Italien zog, Algerier, die in Frankreich leben wollten, aber auch Asiaten, die in Kanada oder den Vereinigten Staaten Arbeit suchen wollten. Manchmal legte eine Familie, eine Gruppe von Familien oder sogar eine ganze Dorfgemeinschaft zusammen, um von ihren mageren Ersparnissen einen von Abduls Pässen kaufen zu können und einen auserwählten Sohn in ein gelobtes Land zu schicken. Wenn der junge Mann in seiner neuen Heimat angekommen war, arbeitete er nach und nach das Darlehen ab, damit weitere Pässe für andere junge Männer und Frauen gekauft werden konnten. Die Preise rangierten zwischen fünf- und fünfundzwanzigtausend Dollar. Khaderbhais Netzwerk brachte jedes Jahr etwa hundert dieser Armutspässe unter die Leute und erwirtschaftete damit einen jährlichen Nettogewinn von über einer Million Dollar.
Die zweite Kundenkategorie waren politische Flüchtlinge. Einige von ihnen waren Opfer von Kriegen und ethnischen oder religiösen Konflikten, andere wurden von gewaltsamen oder politischen Umwälzungen in ihrer Heimat ins Exil getrieben: Als Großbritannien 1984 ein Abkommen unterzeichnete, in dem es sich verpflichtete, seine Kolonie Hongkong nach einer Frist von dreizehn Jahren an China zurückzugeben, wurden mit einem Federstrich Tausende von Einwohnern Hongkongs, die nicht als britische Staatsbürger anerkannt wurden, zu unseren potenziellen Kunden. Weltweit leben schätzungsweise immer rund zwanzig Millionen Flüchtlinge in Lagern und Schutzzonen. Und Abdul Ghanis Passagenten ruhten nie. Ein neuer Pass kostete diese Flüchtlinge zwischen zehn- und fünfzigtausend Dollar. Der höhere Preis erklärte sich daraus, dass es riskanter war, Pässe in Kriegsgebiete zu schmuggeln, und dass die Nachfrage dort größer war, weil viele Menschen fliehen wollten.
Die dritte Sorte Kunden für Abdul Ghanis gefälschte Pässe waren Kriminelle. Gelegentlich waren das Männer wie ich – Diebe, Schmuggler, Auftragskiller –, die eine neue Identität brauchten, um der Polizei immer einen Schritt voraus bleiben zu können. Doch in erster Linie handelte es sich bei diesen besonderen Kunden um Männer, die Gefängnisse eher bauen und füllen ließen, als selbst dort einzusitzen. Diese Kriminellen waren Diktatoren, Rädelsführer von Militärputschen, Geheimpolizisten und Funktionäre korrupter Regimes, die gezwungen waren zu fliehen, wenn ihre Straftaten ans Licht kamen oder das Regime gestürzt wurde. Ein Flüchtling aus Uganda – ein Mann, mit dem ich selbst verhandelte – hatte mehr als eine Million Dollar gestohlen, die dem Land von internationalen Geldgebern für die Errichtung von Gebäuden der Grundversorgung, unter anderem ein Kinderkrankenhaus, gespendet worden waren. Das Krankenhaus wurde nie gebaut. Stattdessen wurden die kranken, verletzten, sterbenden Kinder in ein fernes Lager geschafft und dort
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