Shantaram
lud mich auf einen Tee ein, und wir gingen zu der Gruppe hinüber, die das Podest errichtete. Mein ehemaliger Nachbar Jeetendra beaufsichtigte die Arbeiten. Er schien sich von dem Kummer erholt zu haben, der ihn nach dem Cholera-Tod seiner Frau viele Monate lang geschwächt hatte. Er war zwar schmaler geworden – sein einstmals stattlicher Schmerbauch war zu einer kleinen festen Wölbung unter seinem T-Shirt geschrumpft –, aber in seinen Augen leuchtete wieder Hoffnung, und sein Lächeln wirkte nicht mehr gezwungen. Sein Sohn Satish war seit dem Tod der Mutter regelrecht in die Höhe geschossen. Ich begrüßte ihn mit Handschlag und ließ einen Hundert-Rupien-Schein in seine Rechte gleiten, den Satish ebenso diskret in seiner Hosentasche verschwinden ließ. Sein Lächeln war herzlich, doch der Tod seiner Mutter schien ihm noch keine Ruhe zu lassen. In seinem Blick lag etwas Hohles, ein schwarzes Loch der Trauer und des Schocks, das alle Fragen schluckte und keine Antworten freigab. Als er sich wieder seiner Arbeit zuwandte, die darin bestand, den Männern Kokosseil zurechtzuschneiden, mit dem sie die Bambusstützen festzurrten, wurde sein junges Gesicht starr. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck, manchmal entdeckte ich ihn an mir selbst, wenn ich zufällig in den Spiegel blickte. Und ich wusste: So sehen wir aus, wenn unser Glück gefleddert wird, wenn man uns unser Vertrauen und unsere Unschuld nimmt und wenn wir – zu Recht oder zu Unrecht – uns selbst die Schuld daran geben.
»Weißt du eigentlich, wie ich zu meinem Namen gekommen bin?«, fragte mich Johnny vergnügt, als wir den heißen, köstlichen Slum-Chai schlürften.
»Nein«, erwiderte ich lächelnd. »Das hast du mir nie erzählt.«
»Ich bin auf dem Gehweg geboren worden, in der Nähe des Crawford Market. Meine Mutter hatte sich dort eingerichtet, mit einem kleinen Unterstand aus zwei Stangen und einer Plastikplane. Die Plane war an einer Mauer befestigt, unter einer umgeknickten Reklametafel, an der nur noch ein paar Plakatfetzen hingen. Auf der einen Seite klebte der Rest eines Filmplakats, auf dem noch der Name Johnny zu erkennen war. Und unter diesem Rest ragte ein Stück von einem anderen Plakat hervor, von einer Zigarrenwerbung, auf der – ja, du hast richtig geraten – Cigar stand.«
»Und das hat ihr gefallen«, spann ich die Geschichte für ihn weiter, »und sie hat …«
»… mich Johnny Cigar genannt. Ihre Eltern hatten sie doch vor die Tür gesetzt, das habe ich dir ja schon mal erzählt. Und auch dass der Mann, der mein Vater war, sie sitzengelassen hatte. Deshalb hat sie sich strikt geweigert, mir einen der beiden Familiennamen zu geben. Und während sie in den Wehen lag, während sie mich dort auf dem Gehweg zur Welt brachte, hatte sie ständig diese Worte vor Augen, Johnny Cigar, und das hat sie als Zeichen genommen. Sie war eine sehr trotzige Frau.«
Er schaute zu dem kleinen Podest hinüber und beobachtete, wie Jeetendra, Satish und die anderen Männer Sperrholzplatten auf den Unterbau hoben.
»Das ist ein schöner Name, Johnny«, sagte ich nach einer Weile. »Und er hat dir Glück gebracht.«
Er lächelte mich an, und plötzlich musste er laut lachen.
»Ich bin bloß froh, dass es keine Werbung für Abführmittel oder so was war!«, japste er, woraufhin auch ich losprustete und ihn mit Tee bespuckte.
»Ihr beiden braucht übrigens ziemlich lang, um das berühmte Band der Ehe zu knüpfen«, merkte ich an, als wir uns wieder beruhigt hatten. »Woran liegt’s?«
»Na ja, weißt du, Kumar will unbedingt einen auf erfolgreichen Geschäftsmann machen und beiden Töchtern eine Mitgift geben. Prabaker und ich haben ihm gesagt, dass wir keine Mitgift wollen. Wir glauben nicht an diesen ganzen Kram, weißt du, das ist doch alles furchtbar altmodisch. Prabakers Vater ist allerdings ganz anderer Ansicht – er hat Prabu eine Mitgiftliste geschickt, also eine Liste mit all den Geschenken, die er haben will. Unter anderem will er eine goldene Uhr – eine Seiko Automatik – und ein neues Fahrrad. Übrigens ist das Modell, das er sich ausgesucht hat, viel zu groß für ihn – das haben wir ihm auch gesagt, dass seine Beine viel zu kurz sind und dass er gar nicht bis zu den Pedalen kommt, vom Boden ganz zu schweigen, yaar, aber er ist völlig verrückt nach diesem Fahrrad. Na ja, jedenfalls warten wir jetzt darauf, dass Kumar die Mitgift zusammenkriegt. Die Hochzeiten sollen in der letzten Oktoberwoche stattfinden, vor Diwali und
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