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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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Vater lag sehr viel daran, dass ich ihn übertreffen und sein Lebenswerk fortsetzen würde, das darin bestand, seinen Klan von der Unwissenheit zu befreien und seine Zukunft zu sichern. Ein umherziehender Sufi-Mystiker, ein alter Heiliger, der zurzeit meiner Geburt durch unsere Gegend kam, hatte meinem Vater prophezeit, dass ich dereinst ein strahlender Stern in der Geschichte meines Volkes sein würde. Darauf hoffte mein Vater von ganzem Herzen, doch bedauerlicherweise legte ich keinerlei Geschick für die Rolle des Anführers und auch kein Interesse daran an den Tag, war also, kurz gesagt, eine bittere Enttäuschung für ihn. Er schickte mich zu meinem Onkel, hierher nach Quetta. Und mein Onkel, ein wohlhabender Händler, übergab mich der Obhut eines Engländers, der mein Lehrer und Mentor wurde.«
    »Wie alt warst du damals?«
    »Ich war zehn Jahre alt, als ich Kandahar verließ, und fünf Jahre lang wurde ich von Mr. Ian Donald Mackenzie Esquire unterrichtet.«
    »Du musst ein guter Schüler gewesen sein«, vermutete ich.
    »Vielleicht«, sinnierte Khader. »Doch ich glaube vielmehr, dass Mackenzie Esquire ein sehr guter Lehrer war. In den späteren Jahren habe ich immer wieder gehört, dass die Menschen aus Schottland als mürrisch und streng gelten. Man hat mir auch gesagt, die Menschen aus Schottland seien Pessimisten und würden auf jeder sonnigen Straße immer auf der Schattenseite gehen. Ich meine, wenn dies wahr ist, so vergisst man dabei jedoch, dass die Menschen aus Schottland diese dunkle Seite auch sehr witzig und komisch finden. Mein Mackenzie Esquire war ein Mann, der mit den Augen lachte, selbst wenn er sehr streng mit mir war. Immer wenn ich an ihn denke, entsinne ich mich dieses Lachens in seinen Augen. Und es gefiel ihm sehr gut hier in Quetta. Er liebte die Berge und die kalte Luft im Winter. Seine kräftigen Beine waren wie geschaffen dafür, Berge zu ersteigen, und er unternahm jede Woche Ausflüge in die Berge, manchmal nur in Begleitung von mir. Er war ein froher Mann, der lachen konnte, und ein hervorragender Lehrer.«
    »Wie ging es weiter, als er dich nicht mehr unterrichtet hat?«, fragte ich. »Bist du nach Kandahar zurückgekehrt?«
    »Ja, doch es war keine freudige Rückkehr, wie mein Vater gehofft hatte. An dem Tag, nachdem mein lieber Mackenzie Esquire Quetta verlassen hatte, habe ich einen Mann getötet, im Basar, vor dem Lagerhaus meines Onkels.«
    »Mit fünfzehn?«
    »Ja. Als ich fünfzehn Jahre alt war, habe ich zum ersten Mal einen Mann getötet.«
    Er verfiel in Schweigen, und ich sann über seine Worte nach und versuchte ihre tiefere Bedeutung zu erfassen. … zum ersten Mal …
    »Aus einem Anlass, der eigentlich keiner war, sondern ein Streich des Schicksals, in einem Streit, der aus dem Nichts entstand. Der Mann schlug ein Kind. Es war sein eigenes Kind, und ich hätte mich nicht einmischen dürfen. Doch er war sehr grausam, und ich konnte es nicht mit ansehen. Von meiner Wichtigkeit als Sohn eines Klanführers und Neffe eines der reichsten Händler von Quetta überzeugt, befahl ich dem Mann, die Schläge einzustellen. Das fand er natürlich unerhört, und es kam zu einem Wortwechsel. Aus dem Wortwechsel wurde ein Handgemenge. Und dann war er tot, erstochen mit seinem eigenen Dolch – mit dem er mich töten wollte.«
    »Aber das war Notwehr.«
    »Ja. Es gab viele Zeugen, denn es spielte sich auf der Hauptstraße des Basars ab. Mein Onkel, der damals sehr einflussreich war, setzte sich bei den Stadtoberen für mich ein, und ich konnte nach Kandahar zurückkehren. Unglücklicherweise weigerte sich die Familie des Mannes, den ich getötet hatte, eine Blutgeldentschädigung anzunehmen, und schickte zwei Männer nach Kandahar, die mich töten sollten. Ich war jedoch von meinem Onkel gewarnt worden und schlug zuerst zu. Ich erschoss beide Männer mit dem alten Gewehr meines Vaters.«
    Er schwieg wieder eine Weile und starrte auf den Boden. Aus dem entfernten Teil des Gebäudes drang gedämpfte Musik zu uns herüber. Um den Innenhof des Gebäudes, der größer, aber weniger aufwendig gestaltet war als der Hof in Khaders Haus in Bombay, waren zahlreiche Räume angeordnet. Aus den näher gelegenen Zimmern hörte ich das plätschernde Gemurmel von Gesprächen, gelegentlich unterbrochen von dröhnendem Gelächter. Aus dem Zimmer nebenan, in dem Khaled Ansari untergebracht war, konnte man das typische Klickktschack einer Kalaschnikow AK-74 hören, die nach dem Putzen im Leerlauf

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