Shantaram
Dialekten. Außerdem ritt ich täglich. Es gelang mir zwar nicht, auf mein albernes Gezappel mit Armen und Beinen zu verzichten, wenn ich die Pferde zum Stehenbleiben, Losgehen oder Umdrehen bewegen wollte, aber ich schaffte es immerhin gelegentlich, den Ausritt durch gewöhnliches Absteigen zu beenden, anstatt in hohem Bogen heruntergeschleudert zu werden.
Jeden Tag las ich in Büchern aus einer bizarren Sammlung, die mir von Ayub Khan gebracht wurden, einem Pakistani, der zu unserer Gruppe gehörte und als Einziger in Quetta geboren war. Da man es für zu gefährlich hielt, wenn ich unseren Unterschlupf, eine Pferdefarm am Rande der Stadt, verließ, lieh Ayub für mich Bücher in der Stadtbibliothek aus, die mit obskuren faszinierenden englischsprachigen Werken aus der britischen Kolonialzeit bestückt war. Der Name der Stadt, Quetta, stammte von dem Paschto-Wort kwatta ab, das Fort bedeutete. Die Nähe zum Chaman-Pass nach Afghanistan und dem Bolan-Pass nach Indien hatte seit Jahrtausenden für Quettas militärisch und wirtschaftlich bedeutsame Stellung garantiert. Die Briten besetzten das alte Fort im Jahre 1840, doch Krankheiten und erbitterter Widerstand seitens der Afghanen zwangen die Kolonialtruppen zum Abzug. 1876 wurde die Stadt erneut von den Briten besetzt und als bedeutendster britischer Besitz in dieser Region an der Nordwestgrenze Indiens etabliert. Das Imperial Staff College für Offiziere in Britisch-Indien wurde hier gegründet, und in dem eindrucksvollen natürlichen Amphitheater, das durch die Berge am Rande der Stadt entstand, entwickelte sich eine blühende Handelsstadt. Ein schweres Erdbeben im Mai 1935, bei dem zwanzigtausend Menschen ums Leben kamen, zerstörte den größten Teil der Stadt, doch Quetta wurde wiederaufgebaut, und die breiten, sauberen Boulevards und das angenehme Klima machten die Stadt zu einem der beliebtesten Urlaubsziele in Nordpakistan.
Da ich am Rande der Stadt ausharren musste, bestand deren Hauptattraktion für mich in der eigenartigen Auswahl an Büchern, die Ayub für mich aussuchte. Alle paar Tage stand er mit hoffnungsvollem Grinsen vor meiner Tür und überreichte mir so feierlich einen neuen Bücherstapel, als habe er einen bedeutsamen archäologischen Fund gemacht.
Und so ritt ich während des Tages und gewöhnte mich dabei an die dünnere Luft in tausendfünfhundert Meter Höhe, und abends schmökerte ich in Reisetagebüchern längst verstorbener Forscher, in alten Ausgaben griechischer Klassiker, mit exzentrischen Anmerkungen versehenen Shakespeare-Bänden und einer betörend leidenschaftlichen Übersetzung in Terzinen von Dantes Die göttliche Komödie.
»Einige der Männer halten dich für einen Gelehrten der Heiligen Schriften«, sagte Abdel Khader Khan eines Abends zu mir, als wir schon einen Monat lang in Quetta festsaßen. Er stand in meiner Tür, und ich klappte das Buch zu, in dem ich gelesen hatte, und stand auf, um ihn zu begrüßen. Er umfasste meine Hand und murmelte einen Segensspruch. Ich bot ihm meinen Sessel an und ließ mich auf einem Hocker in Armeslänge entfernt nieder. Khader trug einen in helles Chamoisleder eingeschlagenen Gegenstand unter dem Arm. Er legte ihn auf mein Bett und lehnte sich im Sessel zurück.
»Lesen ist im Lande meiner Herkunft immer noch etwas Geheimnisumwittertes, das Anlass zu Angst und so manchem Aberglauben gibt«, sagte Khader müde und strich sich mit der Hand übers Gesicht. »Nur vier von zehn Männern sind des Lesens mächtig und nur halb so viele Frauen.«
»Wo hast du alles gelernt … was du beherrschst?«, fragte ich. »Zum Beispiel so gut Englisch zu sprechen?«
»Ich wurde von einem außergewöhnlichen englischen Herrn betreut«, antwortete Khader mit einem kleinen Lachen, sichtlich erfreut über die Erinnerung. »So wie mein kleiner Tariq von dir betreut wurde.«
Ich nahm zwei Beedies aus einer Packung, zündete sie in der Hand an und reichte Khader eines.
»Mein Vater war Anführer seines Klans«, sprach Khader weiter. »Er war ein strenger Mann, doch er war auch gerecht und weise. In Afghanistan werden Männer zu Anführern, wenn sie sich dieser Rolle als würdig erwiesen haben – sie sind gute Redner, geschickt im Umgang mit Geld und mutig, falls es nötig ist zu kämpfen. Das Recht, Anführer zu sein, kann nicht vererbt werden. Wenn der Sohn eines Anführers nicht weise und mutig ist und nicht gut mit den Menschen sprechen kann, wird ein anderer, besser geeigneter Mann ausgewählt. Meinem
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