Shantaram
wachsen schienen, war bei weitem der beste Tänzer der gesamten Männergruppe und wurde von allen bewundert. Seine verborgenen inneren Mysterien, seine schöpferische und spirituelle Seite, kamen im Tanz zum Ausdruck. Und sein Gesicht, von dem ich immer sagte, das Lächeln sei dort für immer und ewig ausgelöscht worden, dieses grimmige zerfurchte Gesicht, verwandelte sich im Tanz und offenbarte plötzlich eine selbstlose aufrichtige Schönheit, die so strahlend war, dass mir die Tränen in die Augen traten.
»Erläutere es mir noch einmal«, forderte Abdel Khader Khan mich mit einem verschmitzten Lächeln in den Augen auf, als wir den Tänzern von einem Aussichtsplatz an einer schattigen Mauer zusahen.
Ich lachte. Als ich ihn ansah, lachte er auch.
»Fang schon an«, drängte er mich. »Du machst mir eine Freude damit.«
»Aber ich habe es dir doch schon zwanzigmal erzählt. Mir wäre es lieber, du würdest mir eine Frage beantworten.«
»Du erzählst es mir noch einmal, dann beantworte ich deine Frage.«
»Okay. Also: Das Universum entstand vor ungefähr fünfzehn Milliarden Jahren. Zu Anfang war es absolut simpel strukturiert, und seither wird es zunehmend komplexer. Diese Bewegung vom Simplen zum Komplexen ist dem Universum eigen, und man nennt sie die Tendenz zur Komplexität. Wir sind Ergebnisse dieses Prozesses, ebenso wie die Vögel, die Bienen, die Bäume, die Sterne und sogar die Galaxien. Sollten wir durch eine kosmische Explosion wie einen Asteroideneinschlag ausgelöscht werden, würde eine andere Ebene unserer Komplexität entstehen, denn so funktioniert das Universum. Und so sieht es vermutlich überall im Universum aus. Wie war das bisher?«
Ich wartete, doch als Khader nicht antwortete, fuhr ich mit meinem Vortrag fort.
»Gut, die endgültige oder ultimative Komplexität – die Stelle, auf die dieser gesamte Prozess ausgerichtet ist – nennen wir Gott. Und alles, was diese Bewegung zu Gott hin fördert und beschleunigt, ist gut. Alles, was sie behindert oder verhindert, ist böse. Und wenn wir wissen wollen, ob etwas gut oder böse ist – Krieg, Töten und Waffen zu Mudjahedin-Kämpfern schmuggeln zum Beispiel – , sollten wir uns fragen: Was wäre, wenn jeder das tun würde? Würde uns das in diesem Teil des Universums bei der Bewegung unterstützen oder zurückhalten? Dann bekommen wir eine Vorstellung davon, ob es gut oder böse ist, was wir tun. Und, noch wichtiger: Wir wissen, warum es gut oder böse ist. So, wie war das jetzt?«
»Sehr gut«, antwortete Khader. Während ich mich bemüht hatte, sein kosmologisches Modell darzustellen, hatte er die Augen geschlossen und mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen immer wieder genickt. Nach meinem letzten Satz wandte er sich zu mir und lächelte breit. Ein schelmisches Funkeln lag in seinen Augen. »Weißt du, wenn du wolltest, könntest du dieses Ideengebäude genauso gut und präzise wiedergeben wie ich selbst. Und ich denke schon mein ganzes Leben lang darüber nach. Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich es mich macht, es aus deinem Mund in deinen eigenen Worten zu hören.«
»Ich glaube aber, dass die Worte von dir stammen, Khaderji. Du hast mich oft genug unterrichtet. Aber ich habe noch ein paar Probleme. Kann ich jetzt meine Frage stellen?«
»Bitte.«
»Okay. Es gibt leblose Dinge wie Felsen auf der Welt, und es gibt lebende wie Bäume und Fische und Menschen. Deine Kosmologie erklärt mir nicht, woher das Leben und das Bewusstsein kommen. Wenn Felsen aus demselben Stoff gemacht sind wie Menschen, weshalb sind Felsen dann nicht lebendig? Ich meine, woher kommt das Leben?«
»Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du gerne eine kurze klare Antwort auf deine Frage haben möchtest.«
»Ich glaube, ich möchte gerne eine kurze klare Antwort auf jede Frage haben«, antwortete ich und lachte.
Khader zog eine Augenbraue hoch, weil er meine flapsige Antwort offenbar für dumm hielt, und schüttelte langsam den Kopf.
»Kennst du den englischen Philosophen Bertrand Russell? Hast du jemals etwas von ihm gelesen?«
»Ja, einiges. An der Uni und im Gefängnis.«
»Er war ein Lieblingsdenker meines lieben Mr. Mackenzie Esquire«, sagte Khader lächelnd. »Seine Schlussfolgerungen überzeugen mich eher selten, aber es gefällt mir, wie er dorthin kommt. Jedenfalls hat er einmal gesagt: Alles, was man in einer Nussschale unterbringen kann, sollte auch dort bleiben. Doch die Antwort auf deine Frage lautet nun
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