Shantaram
abgestattet und ihr Geschenke gebracht. Der Tradition gemäß durfte er während dieses Besuches von den Männern ihrer Familie nicht gesehen werden. Die Mutter des Mädchens half jedoch, wie der Brauch es verlangte, beim Arrangieren des Treffens und saß dann auch als Anstandsdame bei dem künftigen Paar, das sich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal unterhielt. Nach diesen traditionellen Vorbereitungen war das Paar bereit für die Hochzeit, die nun in drei Tagen stattfinden sollte.
Khader schilderte mir die Rituale in aller Ausführlichkeit, und wie mir schien, mit einer gewissen Dringlichkeit, die ich bislang nicht an ihm kannte. Zunächst nahm ich an – vermutlich zu recht –, dass er sich selbst nach fünf Jahrzehnten im Exil wieder mit den Bräuchen seines Volkes vertraut machte. Er durchlebte im Geiste Szenen und Feste aus seiner Jugend und bewies sich damit, dass er im Herzen noch immer Afghane war. Doch als er in den folgenden Tagen nicht müde wurde in seinen Ausführungen, wurde mir bewusst, dass all die Geschichten und detaillierten Erklärungen mehr für mich als für ihn selbst bestimmt waren. Er erteilte mir einen Intensivkurs über die Kultur des Landes, in dem man mich vielleicht begraben würde. Er verlieh unserem Zusammensein und meinem etwaigen Tod auf seine ihm eigene Art einen Sinn. Ich brachte das nie zur Sprache, doch ich verstand sein Handeln und hörte aufmerksam zu, um so viel wie möglich zu lernen.
Verwandte, Freunde und andere Gäste kamen in jenen Tagen zu Besuch in Hajjis Dorf. Die vier Haupthäuser von Hajji Mohammeds festungsartiger kal’a der Männer waren hohe rechteckige Gebäude aus Lehmziegeln. Das Gelände war von hohen Mauern umgeben, und die Häuser befanden sich jeweils in den vier Ecken der Einfriedung. Die kal’a der Frauen lag hinter noch höheren Mauern versteckt. Im Lager der Männer schliefen wir auf dem Boden und bereiteten unsere Mahlzeiten selbst zu. Das Haus, in dem Khader, Nasir und ich wohnten, war bereits ziemlich voll besetzt, als wir ankamen, doch als weitere Gäste aus fernen Dörfern eintrafen, rückten alle einfach noch näher zusammen. Wir schliefen in den Kleidern auf dem Boden, so aufgereiht, dass die Füße des einen Mannes neben dem Kopf des nächsten lagen, um Platz zu sparen. Es gibt eine Theorie, der zufolge Schnarchen ein Verteidigungsreflex ist – ein Warnlaut, der in der Altsteinzeit gefährliche Tiere vom Eingang der Höhle vertrieb, in der unsere Vorfahren, leicht angreifbar, im Schlaf lagen. Die afghanischen Nomaden, Kameltreiber, Schaf- und Ziegenhirten, Bauern und Guerillakämpfer, mit denen wir die Unterkunft teilten, verliehen dieser Theorie Glaubwürdigkeit, denn sie schnarchten die lange kalte Nacht hindurch so wild und donnernd laut, dass selbst ausgehungerte Löwen davongerannt wären wie ängstliche Mäuse.
Tagsüber bereiteten die Männer aufwendige Gerichte für das Hochzeitsfest am Freitag zu: süßen Joghurt, pikante Käse aus Schaf- oder Ziegenmilch, im Ofen gebackene Kuchen aus Getreidemehl, Datteln, Nüssen und wildem Honig, in Ziegenbutter gebackene Teigkrapfen und natürlich Halal-Fleischgerichte und Gemüsepilau. Während der Zubereitung des Essens sah ich zu, wie einige Männer einen Schleifstein, der mit dem Fuß angetrieben wurde, auf eine freie Fläche zerrten und der Bräutigam eine Stunde lang mit Hingabe einen großen Zierdolch schliff. Der Vater der Braut überwachte das Geschehen aufmerksam. Nachdem er sich schließlich davon überzeugt hatte, dass der Dolch scharf genug war, um als tödliche Waffe zu gelten, nahm er ihn feierlich als Geschenk von seinem künftigen Schwiegersohn entgegen.
»Der Bräutigam hat gerade den Dolch geschliffen, mit dem der Vater der Braut ihn töten wird, falls er das Mädchen jemals misshandelt«, er klärte mir Khader.
»Ein sinnvoller Brauch«, äußerte ich.
»Das ist kein Brauch«, erwiderte Khader lachend. »Auf diese Idee ist der Vater der Braut ganz alleine gekommen. Ich habe das noch nie gehört. Aber wenn es funktioniert, könnte es vielleicht ein Brauch werden.«
Die Männer probten auch täglich mit den Musikern und Sängern, die man für die öffentliche Feier engagiert hatte, rituelle Gruppentänze. Bei diesen Tänzen erlebte ich Nasir auf eine mir bislang gänzlich unbekannte Art. Er mischte sich voller Leidenschaft und Anmut unter die Tanzenden. Und mein klein gewachsener Freund, dessen wuchtige Arme wie dicke Äste aus seinem Baumstamm von einem Körper zu
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