Shantaram
Nasir anerkennend auf die Schulter, ziemlich genau an der Stelle, an der Nasir verwundet worden war, doch Khaders Getreuer zuckte nicht mit der Wimper. Stattdessen betrachtete er prüfend mein Gesicht. Es war meine erste offizielle Besprechung nach Abdul Ghanis Tod und dem Ende des zweiwöchigen Gangsterkrieges, bei dem sechs Leute umgekommen waren und der Khader-Klan unter Nasirs Führung die Vormachtstellung zurückerobert hatte. Ich erwiderte Nasirs Blick und nickte langsam. Sein strenges barsches Gesicht wurde einen Moment weich, nahm jedoch gleich wieder den gewohnt grimmigen Ausdruck an.
»Der arme alte Madjid«, sagte Sanjay und seufzte schwer. »Er war nur – wie heißt das wieder? Irgendwas mit Bauern?«
»Ein Bauernopfer«, sagte ich.
»Ja, genau, so ein Scheißbauernopfer. Die Bullen – diese Patil-Muschi und die ganze Truppe – fanden dann, dass es keine Verbindung zwischen Sapna und dem Khader-Klan gibt. Die wussten, dass Madjid einer von Khaders Vertrauten war, und suchten anderswo weiter. Ghani war ungeschoren davongekommen, und nach einer Weile fingen die Sapnas wieder an, Leute zu zerstückeln. Alles wie gewohnt.«
»Was hielt Khader davon?«
»Wovon?«, fragte Sanjay.
»Er meint Madjids Tod«, warf Salman ein. »Das meinst du doch, Lin?«
»Ja, genau.«
Ein kurzes Schweigen entstand, und alle drei Männer sahen mich an. Ihre Mienen waren ernst und etwas indigniert, als hätte ich ihnen eine unhöfliche oder peinliche Frage gestellt. Doch ihre Augen, in denen Lügen und Geheimnisse glitzerten, wirkten betrübt.
»Khader war damit einverstanden«, antwortete Salman schließlich, und mein Herz geriet ins Stolpern, raunte mir von seinem Schmerz.
Wir saßen im Mocambo, einem gepflegten Restaurant und Café im Fort-Viertel, in dem man gut bedient wurde und glamouröse Gäste antraf. Reiche Geschäftsleute aus dem Fort-Viertel verkehrten dort ebenso wie Gangster, Anwälte und Stars und Sternchen aus der boomenden Fernsehbranche. Ich mochte das Lokal und hatte mich gefreut, dass Sanjay es als Ort für unser Treffen ausgesucht hatte. Wir hatten uns eine üppige, aber gesunde Mahlzeit sowie Kulfi-Eis zum Nachtisch zu Gemüte geführt und tranken nun gerade unseren zweiten Kaffee. Nasir saß links von mir mit dem Rücken zu einer Ecke, sodass er den Haupteingang im Auge behalten konnte. Neben ihm hatte sich Sanjay Kumar niedergelassen, der harte junge Hindu-Gangster aus der Vorstadt Bandra, der früher mein Trainingspartner gewesen war. Er hatte sich zu einer festen Stellung in den verbliebenen Reihen vom Khader-Klan hochgearbeitet. Sanjay war ein gutaussehender muskulöser Dreißigjähriger mit dichten dunkelbraunen Haaren, die er immer zu einer Tolle im Stil seiner Filmhelden föhnte. In seinen weit auseinanderstehenden braunen Augen unter der hohen Stirn lag meist ein fröhlicher zuversichtlicher Ausdruck, sein Kinn war weich und rund, und seinem Mund sah man an, dass er gerne lächelte. Sanjays Lachen strahlte Herzlichkeit und Wärme aus. Und er war großzügig: Wenn man mit ihm ausging, war es nahezu unmöglich, die Rechnung zu bezahlen, denn man wurde immer eingeladen. Der junge Gangster tat dies aber nicht aus Großspurigkeit, sondern weil es seiner Natur entsprach, zu geben und zu teilen. Er war auch mutig und in gefährlichen Krisen ebenso zuverlässig wie im täglichen Einerlei. Ihn zu mögen, fiel nicht schwer. Ich mochte ihn auch wirklich, hielt mir aber gelegentlich widerstrebend vor Augen, dass er einer der Männer gewesen war, die Abdul Ghani Kopf und Gliedmaßen mit einem Schlachterbeil abgehackt hatten.
Der vierte Mann am Tisch war Salman, der wie immer neben seinem besten Freund Sanjay saß. Salman Mustaan war im selben Jahr geboren wie Sanjay und gemeinsam mit ihm in den Slums des Vororts Bandra aufgewachsen. Man hatte mir erzählt, dass er ein wissbegieriger Junge gewesen war, der seine Eltern überraschte, indem er in der Schule hervorragende Leistungen erbrachte. Und das, obwohl Salman von seinem fünften Lebensjahr an seinem Vater zwanzig Stunden die Woche im Geflügelhof dabei half, Hühner zu rupfen und das Gelände sauber zu halten.
Ich war vertraut mit seiner Lebensgeschichte, die er mir in Einzelgeschichten anvertraut hatte, während wir gemeinsam in Abdullahs Sport-studio trainierten. Als Salman in der Schule verkündete, er müsse die Schule abbrechen, um länger zu arbeiten und seine Familie zu unterstützen, hatte sich ein Lehrer, der Abdel Khader Khan kannte, an
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