Shantaram
mandelförmigen Augen aus dem Punjab. Anwar entstammte in dritter Generation einer Familie aus Bombay, war kleiner, dunkelhäutiger und der ernsthaftere von den beiden. Neues Blut, hatte Lettie vor einigen Tagen zu mir gesagt. Das hatte sie damals, kurz nach meiner Ankunft in Bombay, auch über mich geäußert. Und als ich sah, wie lebhaft und leidenschaftlich die beiden jungen Männer sich mit den anderen unterhielten, kam mir der Gedanke, dass ich, vor Heroin und Verbrechen, ebenso fröhlich, gesund und voller Zuversicht gewesen war wie sie. Nun freute ich mich darüber, dass ich die jungen Journalisten kannte und dass sie der Runde im Leopold’s angehörten. Ich fand es richtig, dass sie hier waren, ebenso wie ich es als stimmig empfand, dass Maurizio, Ulla und Modena nicht mehr da waren und dass eines Tages auch ich nicht mehr hier sein würde.
Wir schüttelten uns herzlich die Hand. Als Nächstes begrüßte ich Kavita, die neben den beiden saß. Kavita stand auf und umarmte mich. Zärtlichkeit und Vertrautheit lag in dieser Umarmung; eine solche Geste wagt eine Frau nur, wenn sie weiß, dass sie einem Mann vertrauen kann oder dass sein Herz einer anderen gehört. Schon zwischen Ausländern war eine liebevolle Geste von solcher Intensität außergewöhnlich. Von einer indischen Frau war sie eine absolute Rarität und für mich von großer Bedeutung. Ich lebte seit Jahren in dieser Stadt; ich konnte mich auf Marathi, Hindi und Urdu verständigen; Gangster, Slumbewohner und Bollywood-Schauspieler gleichermaßen begegneten mir mit Respekt und Anerkennung; doch kaum etwas vermittelte mir so sehr das Gefühl, allen indischen Welten von Bombay anzugehören wie Kavita Singhs liebevolle Umarmung.
Ich habe ihr nie gesagt, was ihre bedingungslose herzliche Zuwendung mir bedeutet hat. So vieles, zu vieles von den guten Gefühlen in jenen Jahren der Heimatlosigkeit blieb in der Gefängniszelle meines Herzens eingeschlossen – jener Zelle mit den hohen Mauern der Angst, dem kleinen vergitterten Fenster der Hoffnung, der harten Pritsche der Scham. Heute gebe ich meinen Gefühlen Ausdruck. Heute weiß ich, dass ein Augenblick der Liebe und Ehrlichkeit gebannt werden muss, dass er nicht unbeachtet vorüberziehen darf, denn er kommt vielleicht nie wieder. Und dann welken und zerfallen jene wahren und großen Gefühle, die wir von Herz zu Herz senden, ungehört, unbewegt, ungelebt in der Hand der Erinnerung, die sie zu spät noch greifen will.
Doch an diesem Tag, als der graurosa Schleier des Abends allmählich den Nachmittag umhüllte, sagte ich nichts davon zu Kavita. Ich ließ mein Lächeln wie ein Ding aus zerbrochenem Stein vom Wipfel ihrer Herzlichkeit in den Boden unter ihren Füßen stürzen. Sie nahm mich am Arm und stellte mich dem Mann vor, der neben ihr saß.
»Lin, ich glaube, du kennst Ranjit noch nicht«, sagte sie, als der Mann aufstand und wir uns die Hand gaben. »Ranjit ist … Karlas Freund. Ranjit Choudry, das ist Lin.«
Plötzlich verstand ich, warum Lettie mir bleib cool, Mann ins Ohr geraunt und weshalb Lisa beunruhigt die Stirn gerunzelt hatte.
»Sag ruhig Jeet zu mir«, sagte der Mann mit einem breiten natürlichen Lächeln.
»O-kay«, sagte ich ruhig, ohne das Lächeln zu erwidern. »Freut mich, dich kennen zu lernen, Jeet.«
»Ganz meinerseits«, erwiderte er in dem kultivierten Singsang, den man in Bombays Privatschulen und Universitäten pflegt – meinem Lieblingsakzent im Englischen. »Ich habe schon viel von dir gehört.«
»Achaa?«, antwortete ich spontan, so wie jeder Inder meines Alters es getan hätte. Wörtlich bedeutet das gut. In dieser Situation und mit meiner Betonung hieß es ach ja?
»Ja.« Er lachte und ließ meine Hand los. »Karla spricht oft von dir. Du bist ein echter Held für sie, wie du wahrscheinlich weißt.«
»Das ist ja komisch«, sagte ich. Ich war mir nicht im Klaren darüber, ob der Mann wirklich so naiv war, wie er wirkte. »Mir hat sie mal gesagt, dass es nur drei Varianten von Helden gibt: zweifelhafte, angeschlagene oder tote.«
Er legte den Kopf in den Nacken und lachte lauthals, wobei seine makellosen Zähne zum Vorschein kamen. Dann sah er mich an und wiegte beeindruckt den Kopf.
Das ist es also auch, dachte ich. Er mag es, wenn sie mit Worten spielt. Er versteht ihre Liebe zur Sprache und ihre Klugheit. Das ist einer der Gründe, warum sie ihn mag. Okay.
Die anderen Gründe waren leichter zu erfassen. Ranjit war schlank und mittelgroß, etwa so
Weitere Kostenlose Bücher