Shantaram
freiwillig so lange hier gelebt hatte. Sie konnten nicht verstehen, dass ich jedes Mal, wenn ich hierher zurückkehrte, den Wunsch empfand, alles andere hinter mir zu lassen und mich diesem simpleren Leben in Armut hinzugeben, das jedoch so reich war an Respekt, Liebe und Nähe zum Ozean der menschlichen Herzen, in dem man sich hier befand. Sie verstanden nicht, was ich meinte, wenn ich von der Reinheit des Slums sprach, denn sie waren schließlich dort gewesen und hatten das Elend und den Schmutz gesehen. Reinheit gab es dort nirgendwo, fanden sie. Doch sie hatten an diesem Ort der Wunder nicht gelebt, und sie konnten nicht wissen, dass Menschen, die in diesem Wirrwarr aus Hoffnung und Kummer überlebten, bedingungslos und herzzerreißend aufrichtig sein mussten. Und das war die Quelle der Reinheit: Diese Menschen waren im Reinen mit sich selbst.
Und so gesellte ich mich zu den anderen, mit Freude in meinem unehrlichen Herzen ob der Nähe zu meinem einstigen geliebten Zuhause. Und keuchte erschrocken, als eine riesige verhüllte Gestalt aus der Hütte auftauchte und über uns aufragte.
»Ach du ahnst es nicht!«, entfuhr es mir. Fassungslos glotzte ich auf die gigantische Gestalt. Die blaugraue Burka verhüllte den aufgerichteten Bären vom Kopf bis zu den Tatzen. Ich fragte mich unwillkürlich, für welche Frauenfigur man wohl dieses Gewand geschneidert hatte, denn der Bär war einen guten Kopf größer als der größte der anwesenden Männer. »Das gibt’s doch nicht.«
Die verhüllte Gestalt machte ein paar schwankende Schritte und stieß dabei einen Hocker um, auf dem ein Wasserkrug stand.
»Vielleicht ist sie eine sehr große fette … tollpatschige Art von Frau«, schlug Jeetendra vor.
Der Bär hielt unvermittelt inne und ließ sich auf alle viere fallen. Dann tappte die gebückte Gestalt in der blaugrauen Burka vorwärts und gab ein tiefes, grollendes Stöhnen von sich.
»Vielleicht«, fügte Jeetendra hinzu, »ist sie eine kleine fette … brummende Frau.«
»Eine brummende Frau?«, ereiferte sich Johnny. »Was zum Teufel soll denn eine brummende Frau sein?«
»Weiß nicht«, erwiderte Jeetendra kläglich. »Ich will doch nur helfen.«
»Wenn ihr den Bär so rausgehen lasst«, konstatierte ich, »landet er sofort wieder im Knast.«
»Wir könnten den Hut und Mantel noch mal probieren«, brachte Joseph vor. »Vielleicht … einen größeren Hut und … einen schickeren Mantel.«
»Ich glaube nicht, dass wir hier ein Modeproblem haben«, seufzte ich. »Johnny hat mir gesagt, ihr müsst den Bären von hier zum Nariman Point schaffen, ohne dass die Bullen euch erwischen, richtig?«
»Ja, Linbaba«, antwortete Joseph. In Abwesenheit von Qasim Ali Hussein, der sich für sechs Monate mit seiner Familie in seinem Heimatdorf aufhielt, übernahm Joseph die Leitung des Slums. Der Mann, der wegen seiner Trunksucht und der brutalen Misshandlung seiner Frau einst von seinen Nachbarn gezüchtigt worden war, hatte sich jetzt zu einem richtigen Anführer entwickelt. In den Jahren seit jenem Vorfall hatte Joseph das Trinken aufgegeben, die Liebe seiner Frau zurückgewonnen und sich die Achtung seiner Nachbarn errungen. Er hatte an jedem wichtigen Treffen im Slum teilgenommen und härter gearbeitet als alle anderen. Seine Läuterung und sein aufrichtiger Einsatz für seine Familie und die Gemeinschaft trat für alle so unzweifelhaft zutage, dass kein anderer Name außer seinem genannt wurde, als Qasim Ali Joseph zu seinem Stellvertreter während seiner Abwesenheit ernannte.
»Am Nariman Point wartet ein Lastwagen. Der Fahrer sagt, er wird den Kano aus der Stadt und auch über die Grenze vom Staat bringen. Er wird Kano und die Bär-Wallahs dahin bringen, wo sie herkommen, nach Uttar Pradesh, bei Gorakhpur, nicht weit von Nepal. Aber der Fahrer, er fürchtet sich, hierherzukommen und Kano zu holen. Er will, dass wir den Bär zu ihm bringen. Aber wie soll das gehen, Linbaba? Wie sollen wir diesen großen Bär dorthin schaffen? Die Polizei wird ihn bestimmt sehen und verhaften. Und uns auch, weil wir dem Bär bei der Flucht helfen. Und dann? Was dann? Wie sollen wir das machen, Linbaba? Das ist das Problem. Deshalb überlegen wir wegen der Verkleidung.«
»Kanowalleh kahan hey?«, fragte ich. Wo sind Kanos Führer?
» Hier, Baba!«, rief Jeetendra und schob die beiden Bärenführer nach vorne.
Sie hatten die blaue Farbe von ihren Körpern gewaschen und das silberne Schmuckwerk abgelegt. Ihre langen Dreadlocks
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