Shantaram
von Neid. Weil diese kleine Gemeinschaft von Freunden und Nachbarn sich solche Sorgen machte um zwei umherziehende Bärenführer – und ihren Bären natürlich. Diese bedingungslose Unterstützung und den starken Zusammenhalt – was mir hier im Slum sogar noch stärker zu sein schien als in Prabakers Dorf – hatte ich eingebüßt, als ich den Zhopadpatti verließ, um in der bequemeren reicheren Welt zu leben. Diese Gefühle habe ich nirgendwo anders gefunden außer in den Gefilden der Liebe meiner Mutter. Und weil ich sie hier erlebt hatte, in der elenden und zugleich erhabenen Welt dieser ärmlichen Hütten, sehnte ich mich später immer danach zurück.
»Etwas anderes fällt mir beim besten Willen nicht ein«, sagte ich und seufzte. »Wenn wir ihn nur mit Kleidern oder Früchten zudecken und schieben, wird er sich bewegen und Lärm machen. Und wenn wir auffallen, wird man uns anhalten. Aber wenn Kano wie Ganesh aussieht, können wir um ihn herumtanzen und laut singen und unseren eigenen Lärm machen – so viel wir wollen. Ich glaube nicht, dass die Polizei uns anhalten würde. Was meinst du, Johnny?«
»Ich finde den Plan prima«, sagte Johnny und grinste begeistert. »Ganz prima, und ich finde, wir sollten ihn probieren.«
»Ja, ich finde ihn auch toll«, warf Jeetendra aufgeregt ein. »Aber wir müssen uns beeilen – der Lastwagen wartet nur noch für ein oder zwei Stunden, glaube ich.«
Alle nickten oder wiegten zustimmend den Kopf: Jeetendras Sohn Satish, Maria, Faroukh und Raghuram, die beiden Freunde, die miteinander gekämpft hatten und zur Strafe von Qasim Ali an den Knöcheln zusammen gebunden worden waren; und Ayub und Siddhartha, die beiden jungen Männer, die meine Klinik im Slum betrieben, seit ich weggegangen war. Schließlich lächelte Joseph und erteilte seine Zustimmung. Und so setzte sich der ganze Trupp in Bewegung und marschierte im Zwielicht zu der großen Doppelhütte, in der die Werkstatt des alten Rakeshbaba untergebracht war, gefolgt von Kano, der auf allen vieren hinter uns hertappte.
Der alte Meister zog erstaunt die grauen Augenbrauen hoch, als wir seine Hütte betraten, übersah uns jedoch geflissentlich und fuhr ungerührt fort, eine von ihm gestaltete Skulptur an einem zwei Meter langen religiösen Fries aus Fiberglas zu polieren. Er arbeitete an einem langen Tisch aus dicken zusammengebundenen Bohlen, deren Enden auf zwei Tischlerböcken ruhten. Holz- und Fiberglasspäne bedeckten den Tisch und waren zusammen mit Pappmachéfetzen neben den nackten Füßen des alten Bildhauers auf dem Boden verstreut. Teile der Skulpturen – Köpfe, Gliedmaßen und Torsi mit kugelrunden Bäuchen – lagen mitsamt einer eindrucksvollen Ansammlung von Tafeln, Reliefs, Statuen und anderen Artefakten in der Hütte herum.
Der Künstler ließ sich nicht so leicht überzeugen. Er war ein alter Griesgram und nahm zuerst an, dass wir uns mit ihm und den Göttern einen üblen Scherz erlauben wollten. Zuletzt ließ er sich aber doch aus dreierlei Gründen dazu bewegen, uns zu helfen. Der erste war der leidenschaftliche Appell der Bärenführer an den genialen Problemlöser Ganesh, den Herrn der Hindernisse. Wie sich dabei herausstellte, war der Gott mit dem Elefantenkopf von allen Erscheinungen des Göttlichen der Liebling des alten Rakeshbaba. Dann hatte Johnny dezent durchblicken lassen, dass diese Aufgabe vielleicht die schöpferischen Fähigkeiten des alten Bildhauers überfordere, was Rakeshbaba entsprechend in Rage versetzte. Er schrie, dass er falls nötig sogar das Taj Mahal als Ganesh-Figur verkleiden könne und die Tarnung eines Bären für einen enorm begabten und weltweit bekannten Künstler wie ihn ja wohl eine Bagatelle sei.
Doch den Ausschlag gab Kano selbst. Das gewaltige Wesen begann sich offenbar vor der Hütte zu langweilen, kam hereingetappt, ließ sich neben Rakeshbaba auf den Rücken fallen und reckte alle viere in die Luft. Worauf der grantige Künstler sich schlagartig in ein kicherndes, giggelndes Kind verwandelte, das dem pelzigen Tier den Bauch kraulte und mit seinen dicken Tatzen spielte.
Zu guter Letzt richtete sich der Bildhauer auf und drängte alle bis auf den Bären und die Bärenführer hinaus. Dann wurde der Karren hereingerollt, und der drahtige grauhaarige Künstler zog den Grasvorhang am Eingang zu.
Aufgeregt warteten wir draußen und vertrieben uns die Zeit mit Geschichten und Neuigkeiten. Siddhartha berichtete mir, dass der Slum den letzten Monsun relativ
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