Shantaram
nicht«, sagte Ulla und verzog das Gesicht. »Ich hasse Traurigsein. Ich kann es nicht ertragen. Ich wäre lieber gar nichts als auch nur das kleinste bisschen traurig. Deshalb schlafe ich wahrscheinlich auch so gern. Man kann nämlich niemals richtig traurig sein, wenn man schläft. Man kann im Traum glücklich oder wütend sein oder Angst haben, aber um traurig zu sein, muss man hellwach sein, findet ihr nicht?«
»Das sehe ich auch so«, pflichtete Vikram ihr bei. »Es gibt einfach zu viel Traurigkeit auf dieser verdammten Welt, yaar. Deshalb kiffen sich auch ständig alle zu. Jedenfalls kiffe ich mich deshalb ständig zu.«
»Hmmm – nein, ich schließe mich dir an, Lin«, warf Kavita ein, wobei ich nicht einschätzen konnte, ob sie meine Ansicht teilte oder nur Vikram widersprechen wollte. »Wenn man die Chance hat, wirklich glücklich zu sein, muss man sie ergreifen, um welchen Preis auch immer.«
Didier wurde unruhig. Ihm gefiel die Wendung nicht, die das Gespräch genommen hatte.
»Ihr seid alle viel zu ernst«, sagte er.
»Ich nicht!«, protestierte Vikram, sichtlich empört über diese Unterstellung.
Didier zog eine Augenbraue hoch und fixierte ihn.
»Was ich damit sagen will, ist, dass ihr die Dinge viel komplizierter macht, als sie eigentlich sind. Das Grundprinzip des Lebens ist ausgesprochen einfach. Am Anfang haben sich die Menschen vor allem gefürchtet – vor den wilden Tieren und dem Wetter, vor den Bäumen oder dem Nachthimmel –, nur voreinander nicht. Jetzt fürchtet sich jeder vor seinen Mitmenschen und sonst vor nahezu nichts. Niemand weiß, warum Menschen sich so verhalten, wie sie es tun. Niemand sagt die Wahrheit. Niemand ist glücklich. Niemand fühlt sich sicher. In Anbetracht dessen, in welchem Zustand sich die Welt befindet, ist Überleben das Schlimmste, was man tun kann. Und dennoch muss man überleben. Und weil wir uns in diesem Dilemma befinden, reden wir uns ein, wir hätten eine Seele und es gebe einen Gott, dem das Schicksal unserer Seele etwas bedeutet. Und klammern uns an dieser Lüge fest. So, da habt ihr’s.«
Er lehnte sich zurück und zwirbelte mit beiden Händen die Spitzen seines Musketierbarts.
»Ich bin mir nicht sicher, was er da gerade gesagt hat«, murmelte Vikram nach kurzem allgemeinem Schweigen. »Aber irgendwie stimme ich ihm zu und fühle mich gleichzeitig beleidigt.«
Maurizio erhob sich, legte Karla die Hand auf die Schulter und lächelte liebenswürdig und charmant in die Runde. Ich konnte nicht umhin, dieses Lächeln zu bewundern, obwohl ich ihn zugleich dafür hasste.
»Kein Grund zur Konfusion, Vikram«, sagte Maurizio wohlwollend. »Didier kennt nur ein Thema: sich selbst.«
»Und sein Fluch ist«, fügte Karla rasch hinzu, »dass es sich dabei um ein sehr faszinierendes Thema handelt.«
»Merci, Karla, Allerliebste«, murmelte Didier mit einer kleinen Verbeugung.
»Allora, Modena, gehen wir. Vielleicht sehen wir uns später alle im President, si ? Ciao.«
Maurizio küsste Karla auf die Wange, setzte seine Ray-Ban-Sonnenbrille auf und stolzierte in den nächtlichen Trubel hinaus, Modena an der Seite. Der Spanier hatte den ganzen Abend über weder gesprochen noch gelächelt. Doch bevor die beiden nun in der Menschenmenge draußen verschwanden, sah ich noch, wie er leidenschaftlich auf Maurizio einredete und dabei die geballte Faust schwang. Ich schaute den beiden nach, bis sie nicht mehr zu sehen waren, und hörte dann verblüfft und etwas beschämt, wie Lettie meinen kleinmütigen, schäbigen Gedanken laut aussprach.
»Der ist auch nicht so cool, wie er aussieht«, knurrte sie.
»Kein Mann ist so cool, wie er aussieht«, sagte Karla lächelnd und legte ihre Hand auf die von Lettie.
»Magst du Maurizio nicht mehr?«, fragte Ulla.
»Ich hasse ihn. Nein, ich hasse ihn nicht. Aber ich verabscheue ihn. Er macht mich ganz krank, sobald ich ihn nur ansehe.«
»Meine liebe Letitia –«, setzte Didier an, doch Karla fiel ihm ins Wort.
»Nicht jetzt, Didier. Lass gut sein.«
»Ich weiß wirklich nicht, wie ich so blöd sein konnte«, knurrte Lettie mit zusammengebissenen Zähnen.
»Na ja …«, sagte Ulla langsam. »Ich will ja nicht schon wieder in dasselbe Horn stoßen von wegen ›das hab ich dir doch gleich gesagt‹, aber …«
»Warum denn nicht?«, wandte Kavita ein. »Es gibt nichts Besseres! Ich sage mindestens einmal pro Woche ›Das hab ich dir doch gleich gesagt‹ zu Vikram. Das ist besser als Schokolade essen.«
»Ich mag
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