Shantaram
kannte die Antworten auf diese Fragen, und ich wusste, dass meine Anwesenheit das Dorf beschmutzte. Ich wusste, dass jedes Lächeln, das man mir dort schenkte, erschwindelt war. Wenn man auf der Flucht ist, schwingt in jedem Lachen eine Lüge mit, und jede Geste der Liebe ist bis zu einem gewissen Grad unaufrichtig.
Es klopfte an der Tür. Ich rief, dass offen sei. Anand trat ein und teilte mir missmutig mit, dass Prabaker mit zwei Freunden gekommen sei. Ich klopfte Anand lächelnd auf die Schulter, weil er so besorgt um mich war, und wir gingen zusammen in den Empfangsraum.
»Oh Lin!«, verkündete Prabaker strahlend, als unsere Blicke sich trafen. »Hab ich prima und sehr gute Nachricht für dich! Ist das da mein Freund Johnny Cigar. Ist er ein sehr wichtige Mann im Zhopadpatti, den Slum, wo wir leben. Und ist das da Raju. Hilft er Mr. Qasim Ali Hussein, den Chef im Slum.«
Ich gab beiden Männern die Hand. Johnny Cigar hatte meine Größe und Statur, womit er größer und schwerer war als der durchschnittliche Inder. Ich schätzte ihn auf Anfang dreißig. Er hatte ein ehrliches, waches Gesicht. Seine sandfarbenen Augen fixierten mich mit festem, selbstbewusstem Blick, und über seinem ausdrucksvollen Mund und dem energischen Kinn saß ein strichgerades Oberlippenbärtchen. Der andere Mann, Raju, war kaum größer als Prabaker, noch schmächtiger gebaut und strahlte eine Traurigkeit aus, die Mitleid erregend ist, weil sie allzu oft einhergeht mit kompromissloser Ehrlichkeit. Buschige Augenbrauen wölbten sich über seinen klugen dunklen Augen, die mich wissend und aufmerksam betrachteten. Sein müdes, schlaffes Gesicht ließ ihn weit älter wirken als fünfunddreißig, das Alter, auf das ich ihn schätzte. Ich mochte beide Männer auf Anhieb.
Die beiden sprachen mich auf Prabakers Dorf an, wollten wissen, wie ich das Leben dort empfunden hatte, und wir unterhielten uns eine Weile. Sie fragten mich auch nach der Stadt – wo es mir am besten gefalle und was ich in Bombay am liebsten unternehme. Als ich merkte, dass die Unterhaltung sich ausweitete, schlug ich vor, in einem der Restaurants in der Nähe gemeinsam einen Chai zu trinken.
»Nein, nein, Lin«, sagte Prabaker und wiegte den Kopf. »Müssen wir gehen doch jetzt. Hab ich nur gewollt, dass du kennen lernst den Johnny und den Raju und auch, dass sie kennen lernen dein gutes Selbst. Und glaube ich, muss er dir was sagen, der Johnny Cigar, ja?«
Er sah Johnny erwartungsvoll an und hob auffordernd die Hände. Der schaute finster, lächelte aber dann und wandte sich an mich.
»Wir haben eine Entscheidung für dich getroffen«, verkündete Johnny Cigar. »Du wirst bei uns wohnen, denn du bist Prabakers guter Freund. Wir haben eine Unterkunft für dich.«
»Ja Lin!«, fügte Prabaker rasch hinzu. »Zieht sie morgen aus, ein Familie. Und ist es deinige Haus übermorgen dann.«
»Aber … aber …«, stammelte ich. Diese großzügige Geste rührte mich, doch die Vorstellung, im Slum leben zu müssen, versetzte mich in helles Entsetzen. Mein erster und einziger Besuch in Prabakers Slum war mir noch zu gut in Erinnerung. Der Gestank der offenen Latrinen, die herzzerreißende Armut, die drangvolle Enge, Tausende und Abertausende von Menschen – ich hatte den Slum als Hölle empfunden, als Inbegriff des Schlimmsten, das einem zustoßen konnte.
»Kein Problem, Lin.« Prabaker lachte. »Wirst du sein so prima glücklich bei uns, siehst du schon. Und weißt du was, siehst du schon jetzt aus in diese gute Moment wie ein anderer Mensch, wirklich. Aber nach nur wenig paar Monate mit uns siehst du aus genau so wie wir alle andere. Denken dann die Leute, dass du lebst seit viele, viele Jahren in der Slum. Siehst du schon!«
»Dann hast du ein Dach überm Kopf«, sagte Raju und streckte langsam die Hand aus, um meinen Arm zu berühren. »Und bist in Sicherheit und kannst wieder Geld sparen. Ist kostenlos, unser Hotel.«
Die anderen lachten, und ich stimmte in ihr Lachen ein. Ihre Zuversicht und ihre Begeisterung wirkten ansteckend. Der Slum war schmutzig und unvorstellbar übervölkert, aber er war kostenlos, und es gab keine C-Formulare. Wenn ich erst einmal dort wohnte, würde ich Zeit zum Nachdenken haben. Ich würde neue Pläne schmieden können.
»Ich … also … danke, Prabu. Danke, Johnny. Danke, Raju. Ich nehme euer Angebot sehr gerne an. Danke.«
»Keine Ursache«, antwortete Johnny Cigar und sah mich forschend an, als er mir die Hand schüttelte.
Damals
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