Shantaram
wusste ich noch nicht, dass Qasim Ali Hussein, das Oberhaupt des Slums, Johnny und Raju geschickt hatte, damit sie mich unter die Lupe nahmen. In meiner Unwissenheit und Selbstbezogenheit hatte ich die schlimmen Lebensbedingungen im Slum erschreckend gefunden und das Angebot eher widerstrebend angenommen. Ich wusste nicht, dass die Hütten sehr begehrt waren und es eine lange Warteliste gab. Ich wusste nicht, dass eine bedürftige Familie kein Zuhause bekommen würde, weil man die Hütte mir angeboten hatte. Bevor Qasim Ali Hussein eine endgültige Entscheidung traf, hatte er Raju und Johnny zu mir ins Hotel geschickt. Raju sollte beurteilen, ob ich bei ihnen leben könnte. Und Johnny sollte sich vergewissern, ob sie mit mir leben könnten. An jenem Abend unserer ersten Begegnung wusste ich nur, dass Johnnys Handschlag aufrichtig genug war, um eine Freundschaft zu begründen, und dass in Rajus traurigem Lächeln mehr Vertrauen und Sympathie lag, als ich verdiente.
»Okay, Lin«, sagte Prabaker grinsend. »Kommen wir übermorgen am Ende von der Nachmittag und holen wir alles ab: die viele Sachen von dir und dein gutes Selbst.«
»Danke, Prabu. Alles klar. Oder – Moment mal, übermorgen … Heißt das, dass aus unserer Verabredung nichts wird?«
»Verabredung? Welche Verabredung, Linbaba?«
»Die … die Stehenden Babas«, sagte ich lahm.
Die Stehenden Babas, ein legendärer Orden wahnsinniger erleuchteter Mönche, betrieb im Vorort Byculla eine Haschischhöhle. Auf der Tour zu den dunklen Seiten der Stadt hatte Prabaker mich damals dort hingeführt, und ich hatte ihm auf der Rückfahrt von Sunder nach Bombay das Versprechen abgenommen, dass wir zusammen mit Karla noch einmal dorthin fahren würden. Ich wusste, dass die Geschichten über die Haschischhöhle sie faszinierten, dass sie aber noch nie dort gewesen war. Dieses Thema nun gerade jetzt anzuschneiden, als ich dieses gastfreundliche Angebot erhalten hatte, war ziemlich undankbar, aber ich war äußerst erpicht darauf, Karla mit diesem Besuch zu beeindrucken.
»Ach so, ja, Lin, ist das kein Problem. Können wir natürlich trotzdem fahren zu die Stehende Babas mit der Miss Karla, und holen wir dann nachher alle deine Sachen ab. Treffen wir uns alle hier, am übermorgen um drei Uhr an Nachmittag. Bin ich so sehr froh, dass du bist jetzt bald ein slumlebige Bursche bei uns, Lin! So froh bin ich!«
Er verließ den Empfangsraum und stieg die Treppe hinunter. Ich beobachtete, wie er unten auf der Straße zwischen Autos und Lichtern verschwand, und spürte, wie meine Sorgen zu schwinden begannen. Ich hatte eine Möglichkeit aufgetan, etwas Geld zu verdienen. Ich hatte eine sichere Unterkunft. Und dann, als hätte diese neue Sicherheit sie befreit, wanden und schlängelten sich meine Gedanken durch die Straßen und Gassen Bombays zu Karla. Ich sah ihre Wohnung zu ebener Erde vor mir, die Verandatüren, die auf die gepflasterte Gasse hinausgingen, keine fünf Minuten von meinem Hotel entfernt. Doch diese Glastüren, die ich vor meinem inneren Auge sah, blieben mir verschlossen. Und während ich vergeblich versuchte, mir Karlas Gesicht, ihre Augen vorzustellen, wurde mir plötzlich klar, dass ich Karla womöglich für immer verlieren würde, wenn ich in den übervölkerten schmutzigen Slum zog. Wenn ich so tief sank, so sah ich es jedenfalls damals, würde meine Scham mich erbarmunglos und so zuverlässig wie eine Gefängnismauer von Karla fernhalten.
Als ich wieder in meinem Zimmer war, legte ich mich sofort schlafen. Der Umzug war eine schmerzhafte, aber praktische Lösung für mein Problem mit dem Visum, und er verschaffte mir Zeit. Ich war erleichtert, zuversichtlich und todmüde. Eigentlich hätte ich gut schlafen müssen, doch ich wurde von schlimmen ruhelosen Träumen heimgesucht in dieser Nacht. In einem weitschweifigen mitternächtlichen Vortrag hatte Didier mir einmal erklärt, dass in jedem Traum ein Wunsch und eine Angst aufeinanderträfen. Wenn Wunsch und Angst eins sind, sagte er, dann sprechen wir von einem Albtraum.
A CHTES K APITEL
D ie Stehenden Babas waren Männer, die das Gelübde abgelegt hatten, für den Rest ihres Lebens nie mehr zu sitzen oder zu liegen. Und so standen sie, Tag und Nacht, bis zu ihrem Tod. Sie aßen im Stehen, verrichteten im Stehen ihre Notdurft. Sie beteten und arbeiteten und sangen im Stehen. Sie schliefen sogar im Stehen, von Gurtzeug gehalten, das zwar den Druck ihres Körpergewichts nicht von ihren Beinen
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