Shantaram
freuten sich, dass ich ihnen neue Kunden vermittelt hatte, und zahlten mir auch eine Provision. Durch meine beiläufige Unterhaltung mit Anand und seinen Angestellten, die das deutsche Pärchen durch Zufall mitgehört hatte, hatte ich also eine Geldquelle aufgetan, die mir das Überleben in Bombay sicherte. Denn auf den Straßen von Colaba wimmelte es von Ausländern, die Dope kaufen wollten.
Ein noch drängenderes Problem als die Geldbeschaffung war allerdings mein Touristenvisum. Als Anand mich ins Gästebuch eintrug, hatte er mich darauf hingewiesen, dass mein Visum bereits abgelaufen war. Alle Hotels in Bombay mussten Verzeichnisse führen, in denen Namen, Passnummer und Gültigkeitsdauer des Visums der ausländischen Gäste eingetragen wurden. Diese Verzeichnisse, die so genannten C-Formulare, wurden von der Polizei penibel kontrolliert. Wer sich ohne gültiges Visum in Indien aufhielt, konnte mit bis zu zwei Jahren Haft bestraft werden. Und Hotelbesitzer, die Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit dem C-Formular duldeten, wurden mit hohen Geldstrafen belegt.
Anand erklärte mir das alles sehr nachdrücklich, bevor er die Angaben in seinem Verzeichnis entsprechend fälschte. Er mochte mich. Anand war Marathe und hatte noch nie einen Ausländer kennen gelernt, der Marathi mit ihm gesprochen hatte. Einmal verstoße er gerne für mich gegen die Regeln, sagte er, aber ich solle unbedingt gleich zur Ausländermeldestelle im Polizeipräsidium gehen und mich um die Verlängerung meines Visums kümmern.
Ich saß in meinem Zimmer und erwog meine Möglichkeiten. Viele waren es nicht gerade. Ich hatte sehr wenig Geld. Mit meinen Vermittlungsgeschäften würde ich zwar etwas verdienen können, aber das reichte nicht aus, um weiter im Hotel zu wohnen und in Restaurants zu essen. Und ein Flugticket in ein anderes Land konnte ich mir erst recht nicht leisten. Außerdem war mein Visum schon abgelaufen, ich hatte mich also bereits strafbar gemacht. Anand versicherte mir zwar, die Polizei werde diesen Fristverzug als Versehen betrachten und es ohne weitere Nachfragen verlängern, doch dieses Risiko wollte ich nicht eingehen. Die Ausländermeldestelle blieb mir also verschlossen. An meinem abgelaufenen Visum konnte ich nichts ändern, weshalb ich auch nicht weiter im Hotel wohnen konnte. Ich war eingekeilt zwischen den gesetzlichen Bestimmungen und den Einschränkungen eines Lebens auf der Flucht.
Im Dunkeln legte ich mich aufs Bett unter dem offenen Fenster und lauschte den Geräuschen von der Straße: dem Paanwalla, der seine köstlichen aromatischen Speisen anpries, dem Wassermelonenmann, dessen schallender Ruf die warme, feuchte Nacht durchdrang, den Schreien eines Straßenakrobaten bei seinen schweißtreibenden Verrenkungen vor einer Schar Touristen und der Musik, immer Musik. Ob es wohl jemals ein Volk gegeben hatte, fragte ich mich, das die Musik noch mehr liebte als die Inder?
Gedanken an das Dorf, Gedanken, die ich gemieden und abgewehrt hatte, bis ich diese Musik vernahm, begannen in meinem Kopf umherzutanzen. Am Tag unserer Abreise hatten mich die Dorfbewohner eingeladen, bei ihnen zu leben. Sie hatten mir ein Haus und Arbeit angeboten. In den letzten drei Monaten meines Aufenthalts hatte ich dem Lehrer der örtlichen Schule Englischunterricht gegeben, hatte Aussprache mit ihm geübt und ihm geholfen, seinen starken Akzent zu korrigieren, den er an die Kinder weitergegeben hatte. Der Lehrer und der Dorfrat hatten mich gedrängt zu bleiben. In Sunder gab es einen Platz für mich – einen Platz und eine Aufgabe.
Doch ich konnte nicht zurückgehen. Jedenfalls damals nicht. In der Stadt kommt man auch durch, wenn man Herz und Seele in der geballten Faust verbirgt. Lebt man aber in einem Dorf, muss man Herz und Seele entblößen und in den Augen tragen. Verbrechen und Bestrafung begleiteten mich durch jede Stunde meines Lebens. Jenes Schicksal, das mir geholfen hatte, aus dem Gefängnis zu entkommen, hatte seine Klauen in meine Zukunft geschlagen. Sie schauten mir aus den Augen, und wer lange und aufmerksam genug hinsah, würde sie unweigerlich entdecken. Früher oder später würde ich Rechenschaft ablegen müssen. Ich hatte mich im Dorf als freier, friedlicher Mensch ausgegeben, und eine Weile war ich wirklich glücklich gewesen, aber meine Seele war nicht rein. Wozu war ich bereit, um meine Verhaftung zu verhindern? Wozu war ich nicht bereit? Wäre ich imstande zu töten, um dem Gefängnis zu entgehen?
Ich
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