Shardik
kaltblütige Angelegenheit nichts übrig hatte. »Sie hätten ihn töten sollen, als er vom Dach herabkam«, sagte er laut und erschauerte in der Kälte.
Er döste zeitweise, erwachte, schlief ein und erwachte wieder. Gedanken zerflossen in Phantasien, und zwischen Träumen und Wachen stellte er sich vor, wie er durch seine Fensteröffnung wie aus der rissigen Öffnung einer Höhle trat; und als er hinausstieg, sah er wieder im Sternenlicht die zwischen den Bäumen auf Quiso bergab führenden Terrassen. Er wollte schon den steilen Abhang hinabeilen, da blieb er auf ein Geräusch hinter ihm stehen, wandte sich um und stand vor der murmelnden alten Vettel von Gelt, die sich bückte und ihm zu Füßen –
Er schrie auf und fuhr hoch. Der Nebel erfüllte noch den Raum, doch es herrschte düsteres Tageslicht, und im Korridor hörte er die Stimmen der Dienerinnen. Seine verbundenen Wunden pulsierten und schmerzten. Er rief nach Wasser, und dann kleidete er sich ohne Hilfe an, legte seine Krone und das Zepter auf dem Bett bereit und nahm Platz, um auf Sheldra zu warten.
Bald ertönten von der Terrasse Schritte und leise Stimmen. Offenbar versammelten sich Besucher der bevorstehenden Hinrichtung in der Halle. Er ging nicht hinaus, sondern blieb auf dem Bettrand sitzen und starrte vor sich hin, sein dunkles Gewand bedeckte ihn von den Schultern bis zum Fußboden. Auch Elleroth, dachte er, wartete wohl; er wußte nicht, wo, vielleicht nicht weit von ihm, vielleicht nahe genug, um die Schritte und Stimmen zu hören, die leiser wurden und der Stille wichen – einer erwartungsvollen Stille.
Als er Sheldras Schritte im Korridor hörte, erhob er sich sofort und ging zur Tür, ehe sie sie erreichen konnte. Er war sich klar, daß er vermeiden wollte, ihre Stimme hören zu müssen, diese Stimme, die nicht anders klänge, wenn sie gekommen wäre, um ihm zu berichten, daß unser Herr Shardik die Toten zum Leben erweckt und Frieden von Ikat bis zum Telthearna hergestellt habe. Als er über die Schwelle trat, wartete sie und blickte ihn ruhig an, ihr Gesicht ließ weder Furcht noch Erregung erkennen. Er nickte ernst, und sie machte wortlos kehrt, um ihm vorauszugehen. Hinter ihr warteten die anderen Frauen, deren steife Kleider den schmalen Korridor von einer Wand zur anderen ausfüllten. Er hob die Hand, um ihr Flüstern zum Schweigen zu bringen, und fragte:
»Unser Herr Shardik – wie ist seine Laune? Stört ihn die Menge?«
»Er ist unruhig, Herr, und blickt zornig um sich«, sagte eines der Mädchen.
»Er wartet ungeduldig darauf, daß sein Feind vor ihn gebracht wird«, sagte eine andere. Sie lachte kurz, verstummte aber sofort und biß sich auf die Lippe, als Kelderek den Kopf wandte und sie kühl anstarrte.
Auf sein Wort begannen sie langsam, angeführt von der Gongschlägerin, durch den Korridor zu gehen. Auf dem oberen Treppenabsatz angekommen, blickte er nach unten und sah, wie der Nebel durch die offene Tür strömte und der junge Soldat mit dem Auge auf ihn am Eingang von einem Fuß auf den anderen trat. Eines der Mädchen strauchelte und fand ihr Gleichgewicht wieder, indem sie sich mit einer Hand an der Wand abstützte. Ein Offizier erschien, bückte zu Sheldra empor, nickte und ging durch die Tür hinaus. Sie wandte den Kopf und flüsterte: »Er geht den Gefangenen holen, Herr.«
Nun betraten sie die Halle. Er hätte sie kaum wiedererkannt, so viel enger und kleiner schien sie ihm geworden zu sein. Das war nicht mehr der hallende, von Flammen erleuchtete halbdunkle Raum, wo er so viele Nächte einsam gewacht hatte und wo er sich mit bloßen Händen auf den Abgesandten aus Kabin stürzte, um ihn an seiner bösen Tat zu hindern. Die Männer standen dicht gedrängt von einer Wand zur anderen, nur ein schmaler Durchgang zwischen zwei gespannten Seilen blieb vor ihm frei. Das Gewirr von Köpfen, Kleidern, Mänteln, Rüstungen und Gesichtern wandte sich ihm zu, hin und her schwankend, da jeder über und neben seinem Nachbarn einen Blick auf den König erhaschen wollte. Über ihnen hing der Nebel in der kalten Luft wie der Rauch von Freudenfeuern. Die verkohlten, unregelmäßigen Lücken im Dach wirkten nur wie hellere Nebelflecken. Obgleich die Kleider der Zuschauer alle möglichen Farben hatten – manche waren auffallend und barbarisch wie Nomaden- oder Räubertracht –, schien ihre Lebhaftigkeit und Buntheit gleichsam verwischt wie die Farben nasser Blätter im Herbst.
Der Fußboden war mit einer Mischung aus Sand
Weitere Kostenlose Bücher