Shardik
fort, um die Soldaten zu suchen, pflückte die farbigen Blumen, die ihm ins Auge fielen, aß Blätter und Gras und stillte mit einem von seiner zerlumpten Kleidung gerissenen Stück Stoff eine lange Wunde an seinem Unterarm. Er folgte der Straße bis zur Ebene, ohne zu wissen, wo er war, und rastete oft, denn obwohl ihm nun Schmerz und Müdigkeit als der natürliche menschliche Zustand erschienen, suchte er sie doch möglichst zu lindern. Eine Wandergruppe, die ihn überholte, warf ihm, als sie erleichtert erkannten, daß er harmlos war, einen alten Brotlaib zu; er merkte sich, nachdem er ihn gekostet hatte, daß er gut schmeckte. Er schnitt sich einen Stab zurecht, der klapperte, als er beim Gehen auf die Steine stieß, denn er litt noch den ganzen Tag unter dem Schauer des schweren Schocks. Er schlief nur mit Unterbrechungen, denn er träumte immer wieder von Dingen, an die er sich dann nicht erinnern konnte – von Feuer und einem großen Fluß, von versklavten, weinenden Kindern und von einer zottigen, klauenbewehrten Bestie, so hoch wie ein Dachbalken.
Wie lange wanderte er, und wer gab ihm Obdach und half ihm? Auch darüber werden Geschichten erzählt – von Vögeln, die ihm Nahrung brachten, von Fledermäusen, die ihm im Dunkel den Weg wiesen, und von Raubtieren, die ihm nichts zuleide taten, wenn er ihr Lager teilte. Das sind Legenden, aber vielleicht entstellen sie kaum die Wahrheit, nämlich, daß er, zu nichts fähig, durch unverlangte Gaben am Leben erhalten wurde. Mitleid in der Not findet man am ehesten, wenn der Leidende sichtlich kein Mensch ist, den man zu fürchten braucht; und obzwar er noch bewaffnet war, konnte niemand einen Mann fürchten, der auf einen Stock gestützt einherhinkte, um sich starrte und der Sonne zulächelte. Manche hielten ihn seiner Kleidung wegen für einen Deserteur, andere sagten, nein, er müsse wohl ein Vagabund sein, der nicht ganz normal war und eine Soldatenausrüstung gestohlen oder vielleicht, aus Not, einen Toten beraubt hatte. Doch keiner tat ihm etwas zuleide oder verjagte ihn – wahrscheinlich weil seine Gebrechlichkeit so augenfällig war und niemand das Gefühl haben wollte, vielleicht durch Abweisung den Tod eines Menschen beschleunigt zu haben. Einige von denen, die ihm in Schuppen oder Nebengebäuden zu schlafen gestatteten – wie die Pförtnersfrau der Festung von S’marr Torruin, des Wächters der Vorberge –, versuchten ihn sogar zu längerem Bleiben zu überreden, um für ihn Arbeit zu finden, denn der Krieg hatte viele Männer fortgerafft. Aber obwohl er lächelte oder eine Weile mit den Kindern im Sand spielte, schien er nur wenig zu begreifen, und seine Gönner schüttelten schließlich den Kopf, wenn er seinen Stock nahm und sich zögernd auf den Weg machte. Er ging wie früher ostwärts, aber nur einige Kilometer täglich, denn er saß viel an einsamen Plätzen in der Sonne und hielt sich zumeist in weniger besuchten Gegenden am Rand der Hügel auf; er hatte das Gefühl, dort könnte er, wenn überhaupt, vielleicht zufällig das mächtige Geschöpf treffen, dessen er sich nur halb entsann, das er, wie ihm schien, verloren hatte und mit dessen Leben das seine auf irgendwie schattenhafte, aber lebenswichtige Weise verbunden war. Er fürchtete sich sehr vor dem Klang von Stimmen in der Ferne und näherte sich selten einem Dorf, ließ sich aber einmal von einem betrunkenen Hirten nach Hause führen, bewirten und sein Schwert rauben oder als Bezahlung abnehmen.
Er wanderte fünf oder vielleicht sechs Tage lang. Es konnte kaum länger gewesen sein, als er eines Abends langsam über den Kamm der niederen Hügel kam und unter sich die Dächer von Kabin – Kabin mit dem Stausee – erblickte, der hübschen, von Mauern umgebenen Stadt mit den Obstgärten im Südwesten und dem näher gelegenen Staubecken im Norden, das sich zwischen zwei grünen Außenwällen hindurchwand; die vom Wind gekräuselte und gewellte Oberfläche erweckte die Vorstellung eines hinter dem Mündungsdamm mit seinem Gatter- und Schleusenkomplex im Käfig gehaltenen, wendigen Tieres. Der Ort war belebt – er konnte inner- und außerhalb der Mauern geschäftige Bewegung sehen; und als er sich am Hügelhang hinsetzte und auf eine Hüttengruppe und auf Rauch blickte, der über den Wiesen vor der Stadt schwebte, bemerkte er einen Trupp Soldaten – etwa acht oder neun Mann –, der durch die Bäume herankam.
Er sprang sofort auf die Beine, lief auf sie zu, hob die Hand zum Gruß und
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