Shardik
eine Forelle, die, außer dem Zucken ihres Schwanzes, regungslos am Ufer stand. Nun schwamm sie stromaufwärts davon, und er setzte sich auf eine Steinbank, zog seine Hand aus der Schlinge und schüttelte den Kopf wie über einen Gedanken, der ihm Sorgen und Kummer machte. Schließlich erinnerte er sich wieder an Tan-Rion und blickte ihn fragend und lächelnd an.
»Verzeiht, Herr, daß ich Euch störe«, sagte Tan-Rion lebhaft. »Gestern abend brachte eine unserer Patrouillen einen ortelganischen Wandersmann ins Lager, der dauernd von einer Botschaft nach oder von Bekla redete. Heute morgen fanden wir das hier bei ihm, und ich hielt es für richtig, es Euch sofort zu zeigen.«
Elleroth ergriff das Hirschemblem, betrachtete es stirnrunzelnd, dann untersuchte er es genauer.
»Wie sieht dieser Mann aus?« fragte er schließlich.
»Wie ein Ortelganer, Herr Graf«, antwortete Tan-Rion, »mager und dunkelhaarig. Mehr läßt sich schwer sagen – er ist ziemlich erschöpft, halb verhungert und entkräftet. Es muß ihm recht schlecht gegangen sein.«
»Ich möchte den Mann sofort sehen«, sagte Elleroth.
38. Die Straßen von Kabin
Beim Anblick Elleroths klärte sich Keldereks bereits zur Hälfte wiederhergestelltes Gedächtnis so plötzlich wie die beschlagene Fläche eines Spiegels, der von ungeduldiger Hand blankgewischt wird. Die Stimmen der Offiziere aus Yeldashay, das auf den Mauern über dem Garten flatternde Sternenbanner, die Kennzeichen der ihn umstehenden Soldaten – all das erhielt im Augenblick eine einzige, erschreckende Bedeutung. So mag ein alter, kranker Mann, der seiner über sein Bett gebeugten Schwiegertochter zulächelt, in einem Moment die schreckliche Bedeutung ihres Blicks und des über seinem Gesicht schwebenden Kissens erfassen. Kelderek stieß einen kurzen, keuchenden Schrei aus, taumelte und wäre hingefallen, wenn die Soldaten ihm nicht unter die Arme gegriffen hätten. Er wehrte sich kurz, dann faßte er sich und starrte, verkrampft und mit aufgerissenen Augen wie ein Vogel, den ein Mann in der Hand hält, auf den Grafen.
»Wieso bist du hier, Crendrik?« fragte Elleroth.
Kelderek antwortete nicht.
»Suchst du Zuflucht vor deinem eigenen Volk?«
Er schüttelte stumm den Kopf und schien einer Ohnmacht nahe.
»Laßt ihn sich hinsetzen«, sagte Elleroth.
Es gab keine zweite Bank, und einer der Soldaten lief ins Haus, um einen Schemel zu holen. Als er zurückkam, folgten ihm einige dienstfreie Wachen und blieben unter den Bäumen stehen, bis ihr Treisatt sie scharf ins Haus zurückbeorderte.
»Crendrik«, sagte Elleroth, sich zu ihm, der zusammengesunken auf dem Schemel saß, vorbeugend. »Ich frage dich nochmals: bist du hier als ein Flüchtling aus Bekla?«
»Ich – ich bin kein Flüchtling«, antwortete Kelderek leise.
»Wir wissen, daß es in Bekla einen Aufstand gegeben hat. Du behauptest, das habe nichts damit zu tun, daß du allein und erschöpft hierherkommst? «
»Davon weiß ich nichts. Ich verließ Bekla kaum eine Stunde nach dir – und durch dasselbe Tor.«
»Hast du mich verfolgt?«
»Nein.«
Keldereks Gesicht war ausdruckslos. Der Gardekommandant schien ihn schlagen zu wollen, doch Elleroth hob die Hand, blickte Kelderek eindringlich an und wartete.
»Ich folgte unserem Herrn Shardik. Das ist die mir von Gott anvertraute Aufgabe«, rief Kelderek mit plötzlicher Heftigkeit und blickte zum erstenmal hoch. »Ich folgte ihm von Bekla bis zu den Gelter Bergen.«
»Und dann –?«
»Dann verlor ich ihn; und später traf ich deine Soldaten.«
Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, und er keuchte.
»Du glaubtest, es seien deine eigenen.«
»Was ich dachte, spielt keine Rolle.«
Elleroth suchte eine Weile in einem Bündel von Rollen und Briefen, die neben ihm auf der Bank lagen.
»Ist das dein Siegel?« fragte er und zeigte auf ein Blatt Papier.
Kelderek blickte darauf. »Ja.«
»Was für ein Papier ist das?«
Keine Antwort.
»Ich werde dir sagen, was es ist«, sagte Elleroth. »Es ist eine von dir in Bekla ausgestellte Vollmacht für einen Mann namens Nigon, die ihn ermächtigt, nach Lapan zu reisen und ein Kontingent Kinder als Sklaven auszuheben. Ich habe hier mehrere ähnliche Papiere.«
Der Haß und die Verachtung der in der Nähe stehenden Männer war drohend wie der Druck von noch nicht gefallenem Schnee am Winterhimmel. Kelderek saß zusammengesackt auf dem Stuhl und zitterte, als wäre es bitter kalt. Der Planelladuft kam und ging,
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