Shardik
sie, deren fröhlicher Mut die abscheuliche Gefahr und das Unheil gering schätzte, in dem er sie gezwungenermaßen verlassen und ihrem Schicksal ausliefern mußte, sie, die sein verlorenes Königreich und sein verpfuschtes Schicksal mehr als aufwog. Haß stieg in ihm hoch gegen die räudige, verbrauchte Bestie auf dem Felsen, Ursprung und Abbild des Aberglaubens, der aus Melathys eine Räuberhure und aus Bel-ka-Trazet einen Flüchtling gemacht hatte, die Tuginda dem Tode nahe brachte und nun zwischen ihm und seiner Liebe stand. Daß dieses elende Geschöpf noch die Macht haben sollte, ihm in die Quere zu kommen und ihn mit sich ins Verderben zu reißen! Er dachte an alles, was er verloren hatte, und an alles, was er noch verlieren konnte – wahrscheinlich verlieren würde –, schloß die Augen und nagte in zorniger Enttäuschung an seinem Handgelenk.
»Zum Kuckuck mit dir!« rief er lautlos im Geist. »Fluch dir, Shardik, und deiner angeblich göttlichen Kraft! Warum rettest du uns nicht aus Zeray, uns, die wir um deinetwillen alles verloren haben, was wir besaßen, uns, die du zugrunde gerichtet und getäuscht hast? Nein, du kannst uns nicht retten, du kannst nicht einmal die Frauen retten, die ihr Leben lang dir gedient haben! Weshalb stirbst du nicht und gehst uns aus dem Weg? Stirb, Shardik, stirb, stirb!«
Plötzlich drang etwas, das wie leise Menschenrede klang, von irgendwo aus dem Wald an sein Ohr. Furcht überkam ihn, denn seit der Nacht auf dem Schlachtfeld war in ihm ein Schauder vor fernen Stimmen unsichtbarer Personen verblieben. Auch das waren fremdartige, geheimnisvolle und schwer erklärbare Laute, eher Kinder- als Männerstimmen – sie schienen vor Schmerz oder Elend zu weinen. Er sprang auf, und dabei hörte er, deutlicher als die Stimmen, ein lautes Platschen aus der Nähe. Er blickte rückwärts und sah zu seinem Schrecken, wie der Bär am Fuß der Böschung unter ihm an Land watete. Er starrte zu ihm herauf, schüttelte sich das Wasser aus dem Pelz und bleckte wütend die Zähne. In panischer Angst wandte sich Kelderek um und bahnte sich, an den hindernden Büschen und Schlingpflanzen reißend, den Weg durch das Unterholz. Ob der Bär ihn verfolgte, wußte er nicht. Er wagte nicht, sich umzudrehen, sondern kämpfte sich weiter über die Anhöhe, dabei spürte er kaum die Schnitt- und Kratzwunden, die seine Glieder bedeckten. Als er sich durch ein Gewirr von Zweigen zwängte, hatte er plötzlich keinen Boden mehr unter den Füßen. Er klammerte sich an einen Ast, der unter dem Gewicht abbrach, verlor das Gleichgewicht und stürzte vorwärts auf die steile Uferböschung des Baches, der den Hügel auf der Landseite umrandete. Seine Stirn schlug auf eine Baumwurzel, er rollte darüber und blieb bewußtlos auf dem Rücken und halb unter Wasser in Schlamm und seichtem Wasser liegen.
49. Der Sklavenhändler
Schmerzen, Durst, blendend grünes Licht und ein Gemurmel wiederkehrender Geräusche. Kelderek schloß seine halbgeöffneten Augen wieder, runzelte dabei die Stirn und spürte etwas Enges und Rauhes, das um seinen Kopf geschlungen war. Er hob eine Hand, und seine Finger strichen über ein grobes Stoffband, das sich von einer Schläfe über die Stirn oberhalb der Augenbraue zog. Er drückte darauf, und hinter seinen Augäpfeln blitzte Schmerz auf wie eine Stichflamme. Er stöhnte und ließ die Hand sinken.
Nun erinnerte er sich an den Bären, hatte aber keine Angst mehr vor ihm. Irgend etwas – was? – hatte ihm bereits gesagt, daß der Bär fort war. Das Tageslicht – das wenige, das er unter seinen Lidern ertragen konnte – war fortgeschritten, es mußte schon einige Zeit seit seinem Sturz vergangen sein; aber nicht das war es, was ihn beruhigt hatte. Sein Bewußtsein klärte sich, und dabei spürte er wieder den rauhen Stoff auf seiner Stirn. Und wie ein unheilvolles Geräusch, das man zuerst von fern her und dann lauter aus der Nähe vernimmt, bei der Wiederholung dem Mann, der es zuerst gleichgültig vernommen hat, seine erschreckende Bedeutung offenbart, so zwängte sich Keldereks schärfer werdendem Bewußtsein die Bedeutung des Stoffes an seiner Stirn auf.
Er wandte den Kopf, hielt eine Hand vor die Augen und schlug sie auf. Er lag am Bachufer nahe der seichten, schlammigen Stelle, in die er gestürzt war. Der Abdruck seines Körpers war noch deutlich im Schlamm zu erkennen, auch die von seinen Füßen stammenden Furchen, als man ihn dorthin geschleppt hatte, wo er jetzt
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