Shardik
Quelle in einen seichten Teich, aus dem das Wasser durch eine Öffnung in der steinernen Einfriedung talwärts zu dem fernen Telthearna floß. Auf der anderen Seite war die Einfriedung halb bedeckt von den langen Ranken einer Trepsisrebe, an denen schon einige rote Blüten entfaltet waren.
»Wo sind wir?« fragte Kelderek. »Schreihals, wo sind wir?«
»Wie zum Teufel soll ich das wissen?« antwortete Schreihals. »Ein verlassenes Dorf oder dergleichen, nicht? Seit vielen Jahren war keiner mehr hier. Was ist denn?« fuhr der Junge immer heftiger fort. »Wir sind alle so gut wie tot. Ist doch egal, ob wir hier oder anderswo sterben, nicht?«
»Für mich«, sagte Kelderek. »Es ist meinetwegen. Hier sieht es aus wie an einem anderen Ort, den ich kannte – dort war ein Teich und Trepsis – «
»Er ist fort«, sagte Radu. »Ja, Shara, Liebling, geh ein wenig trinken. Ich komme bald nach.«
»Gehen wir bald heim?« fragte die Kleine. »Du hast gesagt, wir gehen heim, nicht wahr? Ich bin hungrig, Radu. Ich bin hungrig.«
»Wir gehen bald heim, Liebling«, sagte Radu. »Nicht heute abend, aber sehr bald. Weine nicht. Sieh doch, die großen Jungen weinen nicht. Ich kümmere mich um dich.«
Shara legte beide Hände auf seinen Unterarm und blickte zu ihm hoch, ihr bleiches, schmutziges Gesicht unter dem verfilzten Haar war ernst.
»Es ist dunkel«, sagte sie. »Vati zündete immer eine Lampe an, glaube ich. Ja, er zündete eine Lampe an, wenn es dunkel wurde.«
»Ich erinnere mich an die Lampen«, sagte Radu. »Ich bin auch hungrig. Am Ende wird alles endlich wieder gut sein, das verspreche ich dir.«
»Genshed ist böse, nicht wahr? Er tut uns weh. Wird er nach Schlag-auf-Lee gehen?«
Radu nickte und hielt den Finger an die Lippen. »Die Soldaten kommen«, flüsterte er, »die Soldaten aus Sarkid. Sie werden uns nach Hause bringen. Aber das ist ein Geheimnis zwischen dir und mir.«
»Mir ist übel«, sagte sie. »Bin krank. Möchte trinken.« Sie küßte ihn auf den Arm mit trockenen Lippen und stolperte zum Teich hinüber.
»Ich muß sie behüten«, sagte Radu. Er strich sich mit der Hand über die Stirn und schloß die Augen. »Ihr Vater ist einer unserer Pächter, weißt du. Ach, das hab ich dir schon gesagt. Mir ist auch übel. Ist es eine Seuche, was meinst du?«
»Radu«, sagte Kelderek, »ich werde sterben. Sicherlich. Der Teich und die Trepsis – sie wurden mir als Zeichen gesandt. Sogar wenn die Soldaten kommen, werde ich dennoch sterben, denn sie werden mich töten.«
»Genshed«, sagte Radu, »Genshed will uns sicher umbringen. Oder der Teufel, der jetzt seinen Körper benutzt – er will uns töten.«
»Du bist wirr im Kopf, Radu. Hör mich an. Ich muß dich etwas fragen.«
»Nein, das mit dem Teufel ist wahr. Ich sehe es klar, weil ich wirr im Kopf bin. Wenn einer die Hölle liebt und Höllenarbeit verrichtet, dann nehmen die Teufel seinen Leib in Besitz, bevor er stirbt. Das hat mir unser alter Pförtner in Sarkid einmal gesagt. Damals wußte ich nicht, was er meinte, aber jetzt weiß ich es. Genshed ist ein Teufel geworden. Er ängstigt mich fast zu Tode – sein bloßer Anblick; ich glaube, wenn er es sich vornähme, könnte er mich durch Angst töten.«
Kelderek tastete wie ein Blinder nach Radus Arm.
»Hör mich an, Radu. Ich möchte dich um Verzeihung bitten und deinen Vater auch, bevor ich sterbe.«
»Meinen Vater? Du kennst doch meinen Vater nicht! Du bist ebenso wirr im Kopf wie ich.«
»Du mußt mir im Namen deines Vaters verzeihen und im Namen von Sarkid. Ich war deines Vaters größter Feind. Du hast mich nie nach meinem Namen gefragt. Ich heiße Kelderek aus Ortelga, aber du kanntest mich früher unter dem Namen Crendrik.«
»Crendrik, der Priesterkönig von Bekla?«
»Ja, ich war einmal König von Bekla. Kümmere dich nicht darum, wieso ich hier bin. Es ist Gottes Gerechtigkeit, denn ich war es, der den Sklavenhandel wieder nach Bekla brachte und den Sklavenhändlern Genehmigungen erteilte, für Geld, mit dem ich den Krieg gegen Santil-ke-Erketlis bezahlte. Wenn es wahr ist, daß der Tod alle Schulden und alles Unrecht tilgt, dann bitte ich dich um Verzeihung. Ich bin nicht mehr der Mann, der diese Taten begangen hat.«
»Werden wir wirklich sterben, bist du sicher? Gibt es denn keine Hilfe?« Es war ein geängstigtes Kind, das im letzten Tageslicht zu Kelderek emporstarrte.
»Meine Todesstunde ist gekommen – das weiß ich jetzt. Die Soldaten von Ikat hätten mich in
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