Shardik
sie. »Willst du es mir nicht sagen? Erinnerst du dich, wie ich dich als Kind tröstete, wenn du von Sklavenhändlern träumtest und vom Krieg?«
»Ich weiß nur zu gut, wohin wir fahren«, antwortete Melathys, »nicht aber, wann ich zurückkommen werde.«
»Eine lange Reise?« fragte die Alte hartnäckig.
»Lang oder kurz«, sagte Melathys mit einem knappen, nervösen Lachen, »ich verspreche dir, daß ich, wer immer sterben mag, gut achtgeben werde, daß nicht ich es bin.« Sie bückte sich, pflückte eine rote Blume, hielt sie einen Augenblick der alten Frau unter die Nase und warf sie dann ins Wasser.
Die Alte machte eine unterdrückte Gebärde nervöser Unruhe.
»Es ist also gefährlich, mein Kind?« flüsterte sie. »Warum sprichst du vom Tod?«
Melathys blickte einen Augenblick starr und biß sich auf die Lippe. Dann löste sie das breite Goldband von ihrem Hals und legte es der alten Frau in die Hände.
»Das werde ich jedenfalls nicht brauchen«, sagte sie, »und wenn es gefährlich wird, kann ich ohne sein Gewicht schneller laufen. Frag mich nicht weiter, Thula. Es ist Zeit zum Aufbruch. Wo sind die Diener des Barons?«
»Er sagte, sie sollten nach Ortelga zurückkehren«, antwortete die Alte. »Sie haben bereits ihr Kanu geholt und sind fort.«
»Dann geh selbst und sag dem Baron, daß wir bereit sind. Lebe wohl, Thula. Denk an mich in deinen Gebeten.«
Sie überquerte das Pflaster, stieg in das nächste der vier Kanus und winkte dem Jäger, den Platz hinter ihr einzunehmen. Die beiden Mädchen im Heck tauchten ihre Paddel ein, und das Kanu legte vom Ufer ab. Sie überquerten die Bucht und begannen die Fahrt hinaus durch die schmale Spalte zwischen den Felsen.
Der Bug fuhr an einem Vorhang purpurblättriger Trazada vorbei, und Kelderek, der wußte, wie die kleinen Dornen stechen und brennen, senkte den Kopf und schützte sein Gesicht mit dem gesunden Arm. Er hörte, wie die steifen Blätter an die Kanuwand klatschten, dann spürte er einen frischen Wind und öffnete die Augen. Nun war man draußen und schaukelte in einer Bucht mit stillem Wasser unter dem Nordufer. Der grüne Schatten des Waldes über ihnen erstreckte sich stromaufwärts und über den Fluß. Dahinter war das Wasser blau und bewegt, es glitzerte in der Sonne und warf da und dort kleine Wellen mit weißen Kronen auf. Weit drüben lag die geschwärzte, öde Linie des linken Ufers. Er blickte über die Schulter zurück, konnte aber die Spalte, aus der sie herausgekommen waren, in dem Gewirr von Grün nicht mehr erkennen. Dann tauchte der Bug des zweiten Kanus auf, das sich den Weg durch das Blattwerk bahnte. Melathys folgte kalt lächelnd seinem Blick.
»Es gibt keinen anderen Platz auf der Insel, wo ein Kanu ans Ufer kommen kann. Sonst gibt es nur Felsen und Seichtwasser, wie die Stelle, wo ihr heute nacht gelandet seid.«
»Und die Tuginda?« fragte er. »Kommt sie nicht mit uns?«
Die Priesterin, die die beiden letzten herankommenden Kanus beobachtete, antwortete nicht gleich, sagte aber nach einer Weile: »Kennst du die Geschichte von Inanna?«
»Ja, gewiß, Saiyett. Sie ging in die Unterwelt, um ein Leben zu erbitten, und bei jedem Tor nahm man ihr etwas ab, ihre Kleider, ihren Schmuck und schließlich alles, was sie hatte.«
»In allen Zeiten war es üblich, daß die Tuginda, wenn sie von Quiso aufbrach, um Shardik, unseren Herrn, zu suchen, beim Verlassen der Insel nichts an sich hatte.« Nach kurzer Pause fügte sie hinzu: »Die Tuginda wünscht nicht, daß man auf Quiso von ihrer Abreise weiß. Bis sie erfahren, daß sie fort ist – «
»Aber wenn es keinen anderen Landungsplatz gibt?« sprudelte er hervor und unterbrach sie.
Sie sprach zu den Mädchen an den Paddeln.
»Nito! Neelith! Wir fahren jetzt das Ufer entlang bis zum Steinbruch.«
Am Westende der Bucht lief das Ufer zu einer Landspitze aus. Das Wasser darunter war ruhig, aber sie kamen nur mit Mühe vorwärts, denn der Gegenwind war stürmisch, und auf dieser Seite der Insel war die Strömung stark. Sie fuhren langsam stromaufwärts, die Kanus hüpften und sprangen in dem Wellengang. Schließlich sah Kelderek in einiger Entfernung vor ihnen an der Stelle der steilen grünen Abhänge graue Felsklippen. Die Vorderseite dieser Klippen schien eingehauen und losgebrochen worden zu sein. Es gab da mehrere Öffnungen mit geraden Seitenflächen wie große Fenster, und er bemerkte am Fuß der untersten eine Art Schwelle – eine flache, vorspringende Felsplatte in
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