Shardik
Kelderek sah, wie sie sich erhob, den Kopf wandte und zu ihm hochblickte, aber sie konnte ihn natürlich zwischen den Bäumen im Dunkel nicht sehen.
Die Tuginda kam durch die Schlingpflanzen. Er zeigte wortlos hinunter, und sie machten sich auf den Weg. Ta-Kominion winkte seinen Dienern, sie sollten ein wenig zurückbleiben, und murmelte: »Ein Toter – wo aber ist der Mörder?«
Die anderen antworteten nicht. Als sie hinkamen, trat Zilthe von der Leiche zurück. Die lag in einer Blutlache, die im Mondschein dickflüssig, still und schwarz glänzte. Eine Kopfseite war eingeschlagen und bildete eine große Wunde, und unter der linken Schulter sickerte noch Blut durch Risse im Mantel. Die Augen starrten weit geöffnet, aber den offenen Mund und die entblößten Zähne verdeckte zum Teil ein Arm, den der Mann, wohl um sich zu schützen, gehoben hatte. Er trug Stiefel mit Absätzen, Botenstiefel, und unter den Absätzen war der Boden aufgescharrt, wahrscheinlich hatte er, als er starb, mit den Füßen um sich geschlagen.
Die Tuginda legte den Arm um Zilthes Schultern, führte sie ein wenig beiseite und setzte sich neben sie. Kelderek folgte ihr. Das Mädchen weinte und war verschreckt, konnte aber sprechen.
»Unser Herr Shardik, Saiyett – er schlief. Dann erwachte er plötzlich und ging zu der Straße zurück, denselben Weg, den er heute nachmittag gekommen war. Man hätte meinen können, daß er einen besonderen Zweck verfolgte. Ich versuchte, ihm nachzugehen, aber bald lief er so schnell, als würde er jemanden verfolgen. Als ich an den Waldrand kam« – sie zeigte zur Höhe des Abhanges –, »war er schon hier unten. Er wartete – hinter die Felsen gekauert. Und dann, nach kurzer Zeit, hörte ich den Mann – ich sah ihn die Straße heraufkommen und lief aus dem Wald, um ihn zu rufen und zu warnen. Da verfing sich mein Fuß – ich strauchelte und stürzte, und als ich aufstand, kam Shardik, unser Herr, hinter den Felsen hervor. Der Mann sah ihn und schrie. Er machte kehrt und lief davon, aber Shardik, unser Herr, folgte ihm und schlug ihn zu Boden. Er – er – « In ihrer lebhaften Erinnerung schlug das Mädchen mit steif ausgestrecktem Arm und geöffneter Hand, deren Finger klauenartig gespreizt waren, in die Luft.
»Ich hätte ihn vielleicht retten können, Saiyett – « Sie begann wieder zu weinen.
Ta-Kominion trat zu ihnen, seine Zunge hing zwischen den Zähnen heraus, und er veränderte die Lage seines verwundeten Arms in der Schlinge.
»Erkennst du diesen Mann, Kelderek?« fragte er.
»Nein. Ist er aus Ortelga?«
»Ja. Er heißt Naron und war ein Diener.«
»Wessen?«
»Er diente bei Fassel-Hasta.«
»Fassel-Hasta? Was will er dann hier?«
Ta-Kominion zögerte, warf einen Blick zurück zu Numiss und seinem Gefährten, die die Leiche auf die andere Seite des Weges trugen und sich bemühten, sie halbwegs zu säubern. Dann nahm er eine blutbespritzte Ledertasche, öffnete sie und zeigte der Tuginda zwei mit Pinselschrift bedeckte Rindenstreifen.
»Kannst du diese Botschaft lesen, Saiyett?« fragte er.
Die Tuginda nahm die steifen, gebogenen Blätter und hielt zuerst das eine, dann das andere auf Armlänge ins Mondlicht. Ta-Kominion und Kelderek konnten nichts aus ihrem Gesichtsausdruck entnehmen. Schließlich erhob sie sich, schob die Blätter zurück in die Tasche und reichte sie dem Baron.
»Hast du sie gelesen, Saiyett?«
Sie nickte einmal, anscheinend zögernd, als wollte sie, wenn sie es könnte, die Kenntnis der Botschaft lieber verleugnen.
»Verrät es uns, was der Mann hier machte?« fragte Ta-Kominion beharrlich.
»Er brachte die Nachricht von den heutigen Vorfällen in Ortelga nach Bekla.« Sie wandte sich ab und blickte in das Tal.
Ta-Kominion stieß einen Ruf aus, und die Diener auf der anderen Straßenseite blickten erschrocken nach oben.
»O Gott! Es ist die Nachricht, daß wir den Dammweg überschritten haben und was wir vorhaben?«
Sie nickte wieder.
»Das hätte ich mir denken können! Warum habe ich nicht meine eigenen Leute zur Bewachung der Straße aufgestellt? Dieser verräterische – «
»Die Straße wurde für uns beobachtet«, sagte Kelderek. »Es war gewiß kein Zufall, daß Zilthe strauchelte, bevor sie den Mann warnen konnte. Shardik, unser Herr – er wußte, was geschehen mußte!«
Sie starrten einander an, während der lange Schatten des Waldes im Licht des untergehenden Mondes tiefer über den Abhang kroch.
»Aber Fassel-Hasta – warum hat er das
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