Shardik
hinter seinen Augen. Er erhob sich und taumelte zur Tür. Von Westen her kamen warme Windstöße, und der Himmel war mit dichten, niedrig hängenden Wolken bedeckt. Die Sonne war nicht zu sehen, aber er wußte doch, daß es schon lange nach Sonnenaufgang sein mußte. Er lehnte sich an die Wand und versuchte, Kraft zu sammeln, um die Männer zu wecken, die seinen Befehlen gehorchen sollten.
Erst eine Stunde vor Mittag war die Armee endlich soweit, daß sie sich auf den Marsch machen konnte. Ihr Tempo war langsam, mehrere Soldaten hatten sich mit gefundenem Beutegut beladen – Kochtöpfe, Hacken, Schemel, die armseligen und wertlosen Habseligkeiten von Menschen, die noch ärmer waren als sie. Viele marschierten mit Kopf- und Magenschmerzen. Ta-Kominion, der seine Krankheit nicht mehr verbergen konnte, ging in einem wirren und bekümmerten Traum dahin. Er wußte kaum mehr, was am Morgen vorgefallen war und was er getan hatte, um die Männer zum Aufstehen zu bewegen. Er erinnerte sich an Numiss’ Rückkehr und an dessen Bericht, daß Shardik betäubt worden sei, was einer Priesterin das Leben gekostet habe. Kelderek, so lautete die Botschaft, hoffte, sie bei Einbruch der Nacht einzuholen. Die letzte Nacht, dachte Ta-Kominion, vor der Vernichtung des beklanischen Heeres. Wenn das geschafft wäre, würde er sich ausruhen.
Die schmale Straße schlängelte sich neben den steilen, bewaldeten, windgeschützten Schluchten an Felswänden vorbei, wo die braunen Farne nach Regen schmachteten. Das Rauschen eines unsichtbaren Stroms stieg schon lange von unten herauf durch hin und her wirbelnde Nebelschwaden, die sich ebensowenig zerstreuten wie die Wolkendecke am Himmel. Alles war Einsamkeit und Echo, und bald hörten die Männer auf zu singen, zu scherzen oder auch nur mehr als ein paar leise Worte zu sprechen. Ein zerlumpter Bursche schoß einen Pfeil ab und traf einen über ihnen niederstoßenden Bussard; er hängte, stolz auf seine Treffsicherheit, die Beute um seinen Hals, bis er sie, als Ungeziefer aus der erkaltenden Leiche kroch, mit einem Fluch in einen Abgrund warf. Dann und wann konnten sie für einen Moment durch die Baumkronen die Ebene unter sich sehen, auf der kleine Viehherden zwischen vom Wind hochgepeitschten Staubwolken galoppierten. In abergläubischer Furcht vor diesen schroffen Hügeln eilten die Ortelganer weiter, viele sahen sich beunruhigt um und trugen ihre blanken Waffen in der Hand.
Die ungeordnete Horde zog sich über drei Kilometer der Straße hin, und es gab keine Möglichkeit, Befehle durchzugeben, es sei denn von Mund zu Mund. Als sie aber nach Mittag unterhalb der Nebeldecke angelangt waren, machten sie, ohne daß Befehl dazu erteilt worden wäre, zwischen zwei und drei Uhr halt, da mehrere Kompanien und Gruppen auf die Vorhut stießen, die weggetreten war und in einem offenen Wald rastete. Ta-Kominion hinkte zwischen den Soldaten umher, plauderte und scherzte mit ihnen wie in Trance, nicht so sehr, um sie aufzumuntern, als um von ihnen gesehen zu werden und möglichst selbst herauszufinden, in welcher Verfassung sie waren. Da sie nun das einsame Gelände verlassen hatten, das sie beunruhigte und beherrschte, kehrte ihr Mut wieder, und sie schienen so begierig wie eh und je, die Schlacht zu eröffnen. Doch Ta-Kominion, der mit siebzehn Jahren an Bel-ka-Trazets Seite in Clenderzard gekämpft und drei Jahre später die Gardekompanie befehligt hatte, die sein Vater in den Sklavenkriegen zum Kampf nach Yelda geschickt hatte, spürte deutlich, wie unreif und unerfahren ihr Eifer war. Einerseits, das wußte er, konnte es von Vorteil sein, denn in ihrer ersten Schlacht verausgaben Männer etwas, das sie nie wieder zu verschwenden haben, so daß dieser Kampf – sogar für jene, für die er nicht der letzte ist – sehr wohl ihr bester sein kann. Aber die Verluste bei solch unerfahrenem Eifer waren zumeist schwer. Von solchen Truppen konnte man, was diszipliniertes Vorgehen oder Widerstandskraft betraf, nur wenig erwarten. Ihre rohen, ungeschulten Qualitäten ließen sich am besten nutzen, indem man sie einfach schnell zum Flachland führte und sie den Feind in voller Stärke und in offenem Gelände angreifen ließ.
Er wurde von einem Krampf befallen, und die Bäume lösten sich vor seinen Augen in gelbe, grüne und braune Kreise auf. Irgendwo in der Ferne schien der Regen auf die Blätter zu trommeln. Er lauschte, doch dann erkannte er, daß der Lärm in seinem Ohr lag, das so von Schmerzen erfüllt
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