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Sharon: die Frau, die zweimal starb

Sharon: die Frau, die zweimal starb

Titel: Sharon: die Frau, die zweimal starb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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meiner -, die hinter der alten verlassenen Ciderpresse lebten. Zwei Erwachsene und ein kleines Mädchen, das nackt herumlief und wie ein Affe schnatterte. Zuerst dachte ich, es sei nur eine Schulhoffantasie, etwas, was sich die Kinder gern ausdenken. Aber als ich es Mr. Leidecker gegenüber erwähnte, sagte er: ›O ja, klar. Das sind Jasper und Shirlee Ransom. Sie sind schwachsinnig, aber harmlos.‹ Zuckte einfach die Achseln, die Dorfidioten und so. ›Was ist mit dem Kind?‹ fragte ich. ›Ist es auch schwachsinnig? Warum ist es nicht in der Schulliste eingetragen? Hat man sie geimpft? Hat sich irgendjemand mal die Mühe gemacht, sie zu untersuchen, oder darauf geachtet, dass sie die richtige Ernährung bekommt?‹ Da fing er an nachzudenken, und er bekam einen besorgten Gesichtsausdruck. ›Weißt du, Helen‹, sagte er. ›Ich habe nie viel darüber nachgedacht.‹ Er schämte sich - so ein Mann war das.
    Gleich am nächsten Nachmittag nach der Schule fuhr ich die Straße hinunter, fand die Presse und ging los, um sie zu suchen. Es war genauso, wie die Kinder es beschrieben hatten: Tobacco Road. Diese armseligen Baracken - und sie waren viel schlimmer, bevor wir sie zurechtmachten. Keine Installationen, kein Strom oder Gas, Wasser aus einer alten Handpumpe mit Gott weiß was für Bakterien darin. Bevor wir ihnen die Bäume brachten, ein Fleck Erde ohne etwas. Shirlee und Jasper standen da und lächelten mich an, folgten mir überallhin, aber protestierten nicht im geringsten, als ich in ihre Hütte ging. Im Innern erlebte ich meine erste Überraschung. Ich hatte ein Chaos erwartet, aber alles war ordentlich mit Seifenlauge geschrubbt, außerordentlich gut gepflegt - alle Kleidungsstücke anständig gefaltet, und auf den Betten konnte man Kopf oder Zahl werfen. Die beiden sind sehr sorgfältig, was ihre Hygiene angeht, obwohl sie ihre Zähne wirklich vernachlässigen.«
    »Gut trainiert«, sagte ich.
    »Ja. Als ob ihnen irgendjemand die wichtigsten Dinge beigebracht hätte - das spricht für die Theorie, dass sie aus einer Institution sind. Leider erstreckte sich ihr Training nicht bis auf die Kinderpflege. Sharon war schmutzig, ihr prächtiges schwarzes Haar so voll Dreck, dass es braun aussah, völlig verfilzt und voller Kletten. Das erste Mal, als ich sie sah, saß sie oben in einer der Weiden, da hockte sie auf einem Schenkel, nackt wie eine Wilde und mit etwas Glänzendem in der Hand. Starrte mit diesen großen blauen Augen herunter. Sie sah wirklich wie ein kleiner Affe aus. Ich bat Shirlee, sie herunterzuholen. Shirlee rief zu ihr hinauf -«
    »Rief sie beim Namen?«
    »Ja, Sharon. Das brauchten wir nicht zu improvisieren. Shirlee rief sie immerzu, bat sie herunterzukommen, aber Sharon hörte nicht hin. Es war klar, dass es keine elterliche Autorität gab, sie gehorchte ihnen nicht. Schließlich, nachdem ich so getan hatte, als ignorierte ich sie, kletterte sie herunter, sie behielt einen Abstand zu mir und starrte mich an. Aber nicht furchtsam - im Gegenteil, sie schien glücklich zu sein, ein neues Gesicht zu sehen. Dann tat sie etwas, was mich überraschte. Das glänzende Ding, das sie in der Hand hatte, war ein offenes Majonäseglas. Sie steckte eine Hand hinein, holte einen großen Klacks heraus und begann, ihn zu essen. Fliegen rochen es und fingen an, auf ihr herumzukrabbeln. Ich nahm das Glas weg. Sie zeterte, aber nicht zu laut - sie sehnte sich nach Disziplin. Ich legte den Arm um sie. Sie schien das zu mögen. Aber sie roch übel, sah aus wie eins von diesen wildlebenden Kindern, von denen man manchmal hört. Aber trotzdem war sie ein großartiges Kind - mit diesem wunderbaren Gesicht, diesen herrlichen Augen.
    Ich setzte sie auf einen Baumstumpf, hielt das Majonäseglas hoch und sagte: ›Dazu isst man Thunfisch oder Schinken. Das isst man nicht so ohne was.‹ Shirlee hörte zu. Sie fing an zu kichern. Sharon griff es auf und lachte und strich sich mit ihren fettigen Händen durchs Haar. Dann sagte sie: ›Ich mag es so.‹ Glockenklar. Das schockierte mich. Ich hatte gedacht, sie wäre auch zurückgeblieben, könnte wenig oder gar nicht sprechen. Ich sah sie mir genau an und entdeckte etwas - eine Lebendigkeit in ihren Augen, wie sie auf meine Bewegungen reagierte. Sehr hoch entwickelt. Ihre Bewegungen waren auch gut koordiniert. Als ich erklärte, was für ein guter Kletterer sie sei, gab sie meinetwegen an, kraxelte den Baum hinauf, schlug Rad und machte einen Handstand. Shirlee und

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