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Sharon: die Frau, die zweimal starb

Sharon: die Frau, die zweimal starb

Titel: Sharon: die Frau, die zweimal starb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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spät - am Tag nach der Zeremonie. Postverwechslung, passiert alle Augenblicke auf dem Land.« Keine Postverwechslung hatte die monatlichen Überweisungen an die Ransoms verhindert. Ich sagte nichts.
    »All die Jahre«, sagte sie, »hatte ich das Gefühl, ich verstände sie. Jetzt wird mir klar, dass ich mir etwas vorgegaukelt habe. Ich kannte sie fast gar nicht.«
    Wir gingen auf die gelben Fenster zu. Ich fragte: »Wie haben Sie und Sharon sich kennengelernt?«
    »Mein alter Hang zu guten Taten hat sich da bemerkbar gemacht. Es war kurz nach meiner Hochzeit, 1957. Mr. Leidecker hatte mich gerade hergebracht.«
    Sie schüttelte den Kopf, sagte: »Dreißig Jahre«, dann nichts mehr.
    Ich sagte: »Aus der großen Stadt nach Willow Glen zu ziehen muss Ihnen ganz schön auf die Nerven gegangen sein.«
    »Oh, das tat es. Nach dem College bekam ich eine Lehrtätigkeit bei einer Privatschule in der Upper East Side von Manhattan - Kinder der Reichen. Nachts arbeitete ich freiwillig bei der USO - und da traf ich Mr. Leidecker. Er war in der Army, nahm Kurse im City College auf Kosten von Uncle Sam. Er kam eines Abends in die Halle herein und sah absolut verzweifelt aus. Wir fingen eine Unterhaltung an. Er war sehr hübsch, sehr lieb. Ganz anders als die schnellen, oberflächlichen Männer, die ich in der Stadt kennengelernt hatte. Als er von Willow Glen sprach, klang es wie das Paradies. Er liebte das Land - seine Wurzeln hier reichen tief. Seine Familie kam aus Pennsylvania zum Goldrausch nach Kalifornien. Kam bis Willow Glen und gab sich mit Golden Delicious zufrieden - das hat er immer gesagt. Zwei Monate später war ich verheiratet, eine Lehrerin in einer einklassigen Schule.«
    Wir erreichten das Steingebäude. Sie sah zum Himmel auf. »Mein Mann war schweigsam, aber er wusste, wie man eine Geschichte erzählt. Er spielte schön Gitarre und sang wie ein Traum. Wir haben ein gutes Leben zusammen gehabt.«
    »Klingt wundervoll«, sagte ich.
    »Oh, das war es. Ich liebte schließlich diesen Ort. Die Leute hier sind solide und anständig; die Kinder sind fast rührend unschuldig - damals noch mehr, bevor wir Kabelfernsehen kriegten. Aber es gibt überall Nachteile. Einstmals stellte ich mir vor, eine Intellektuelle zu sein - nicht, dass ich’s war, aber ich ging furchtbar gern zu Gedichtvorträgen ins Greenwich Village, besuchte Kunstgalerien und hörte mir die Musiker im Central Park an. Ich mochte die Stadtszene. New York war damals eine zauberhafte Stadt. Sauberer und sicherer als heute. Die Ideen schienen aus den Bürgersteigen zu sprießen.«
    Wir standen am Fuß der Schultreppe. Das Licht von oben fiel ihr über das Gesicht, entzündete Flammen in ihren Augen. Ihre Hüfte streifte meine. Sie ging schnell weiter und schüttelte ihr Haar.
    »Willow Glen ist eine kulturelle Wüste«, sagte sie und stieg hinauf. »Ich gehöre vier Buchklubs an, habe zwanzig Monatshefte abonniert, aber glauben Sie mir, dass ist kein Ersatz. Am Anfang brachte ich Mr. Leidecker dazu, dass er mich nach L.A. zum Philharmonischen Orchester, nach San Diego zum Shakespearefestival im Old Globe fuhr. Er tat es, ohne zu klagen, gute Seele, die er war. Aber ich wusste, er verabscheute es - er blieb nie während einer Veranstaltung wach - und schließlich hörte ich auf, ihn diesen Strapazen auszusetzen. Das einzige Stück, das ich seit Jahren gesehen habe, ist das Stück, das ich selbst schreibe - das Weihnachtsspiel, das die Kinder aufführen. ›God Rest Ye Merry Gentlemen‹ begleitet von meinem Gehämmer auf dem verstimmten Klavier.«
    Sie lachte. »Wenigstens den Kindern macht’s Spaß - sie sind hier in der Gegend nicht verwöhnt. Zu Hause liegt die Betonung auf arbeiten, sich einen Lebensunterhalt verdienen. Sharon war anders. Sie war lernbegierig, hungrig nach geistiger Nahrung.«
    »Unglaublich«, sagte ich. »Wenn man ihr Zuhause bedenkt.«
    »Ja, wirklich unglaublich. Vor allem, wenn man den Zustand berücksichtigt, in dem sie sich befand, als ich sie zum ersten Mal erblickte. Es war ein Wunder, wie sie aufblühte. Ich kam mir privilegiert vor, daran teilzuhaben. Ganz gleich, wie sich dann alles entwickelt hat.«
    Sie würgte Tränen hinunter, stieß die Tür auf und ging schnell zu ihrem Pult. Ich sah ihr beim Aufräumen zu.
    »Wie«, so wiederholte ich, »gerade haben Sie beide sich eigentlich kennengelernt?«
    »Gleich nachdem ich hergekommen war, hörte ich meine Schüler immer wieder von ›Idioten‹ reden - ihr Ausdruck, nicht

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