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Sharon: die Frau, die zweimal starb

Sharon: die Frau, die zweimal starb

Titel: Sharon: die Frau, die zweimal starb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Schopf. Als er ein paar Monate nach der Beerdigung aufkreuzte und Ihnen sagte, was er für Sie hatte, dachten Sie, Ihre Gebete wären erhört worden. Das Timing war perfekt. Sollten alle denken, der alte Henry hätte es schließlich doch noch gebracht - mit Zins und Zinseszins. Ihnen nicht ein, sondern zwei schöne Babymädchen vermacht.«
    »Sie waren schön«, sagte sie. »So winzig, aber bereits schön. Meine eigenen kleinen Mädchen.«
    »Sie gaben ihnen neue Namen.«
    »Schöne neue Namen«, sagte sie. »Für ein neues Leben.«
    »Woher hatte sie Ihr Bruder? Was hat er Ihnen gesagt?«
    »Er hat es mir nicht gesagt. Nur, dass die Mutter in Not geraten wäre und sich nicht mehr um sie kümmern könnte.«
    In Not geraten. In große Not. »Waren Sie nicht neugierig?«
    »Überhaupt nicht. Billy sagte, je weniger ich wüsste - je weniger wir alle wüssten -, umso besser. Wenn sie dann älter würden und anfingen, Fragen zu stellen, könnte ich ihnen ehrlich sagen, dass ich nichts wüsste. Ich bin sicher, Sie finden das falsch, Doktor. Ihr Psychologen predigt ja das Evangelium der offenen Kommunikation - dass jeder jeden anderen ununterbrochen mit all seinen Geheimnissen vollquatschen soll. Ich sehe nicht, dass die Gesellschaft durch Ihr scheußliches Sicheinmischen irgendwie besser geworden wäre.«
    Sie leerte ihr Glas wieder. Ich stand mit dem Krug bereit. Als sie das Nachgefüllte fast ausgetrunken hatte, fragte ich: »Wann fing das Ganze denn an schiefzugehen?«
    »Schiefzugehen?«
    »Zwischen den beiden Mädchen.«
    Sie schloss die Augen, legte den Kopf zurück gegen das Kissen. »Am Anfang war es wunderschön - genau wie in einem Traum, der wahr geworden ist. Sie waren wie zwei Bücherstützen , so perfekt, harmonisch. Vollkommen blaue Augen, schwarzes Haar, rosige Wangen - ein Paar kleine Porzellanpuppen. Ich ließ ihnen von meiner Schneiderin Dutzende von Outfits machen: winzige Kleidchen und Häubchen, Hemdchen und Stiefelchen - ihre Füße waren so klein, dass ihre Stiefelchen nicht größer als ein Däumchen waren. Ich fuhr einkaufen nach Europa und kam mit den hübschesten Sachen für das Kinderzimmer zurück: einer ganzen Sammlung von richtigen Porzellanpuppen, handgedruckten Wandbehängen, zwei exquisiten Louis-Quatorze-Wiegen. Ihr Schlafzimmer roch immer süß nach frisch geschnittenen Blumen und Duftkissen, die ich selbst herstellte.«
    Sie senkte die Arme herab und ließ zu, dass das Glas sich neigte. Ein Bächlein ergoss sich seitlich herab und befleckte den Steinfußboden.
    Sie rührte sich nicht.
    Ich unterbrach ihre Träumerei. »Wann fing der Ärger an, Mrs. Blalock?«
    »Hacken Sie nicht auf mir herum, junger Mann.«
    »Wie alt waren sie, als der Konflikt offenbar wurde?«
    »Früh … ich erinnere mich nicht genau.«
    Ich blickte sie an und wartete.
    »Oh!« Sie schüttelte die Faust und drohte mir. »Es ist so lange her! Wie, um Himmels willen, soll ich mich denn daran erinnern? Sieben, acht Monate alt - ich weiß es nicht! Sie hatten gerade herumzukriechen und überall hinzugehen angefangen - wie alt sind Babys, wenn sie das tun?«
    »Sieben, acht Monate klingt richtig. Erzählen Sie mir davon.«
    »Was gibt es da zu erzählen? Sie waren eineiig, aber so verschieden, der Konflikt war unvermeidlich.«
    »Wieso verschieden?«
    »Sherry war aktiv, dominant - körperlich und geistig. Sie wusste, was sie wollte, und sie nahm es sich einfach, Verbote beachtete sie nicht.« Sie lächelte. Zufrieden. Seltsam.
    »Wie war Sharon?«
    »Eine welke Blume - flüchtig, kurzlebig, eine Eintagsfliege, kühl und distanziert. Sie saß da und spielte unablässig mit demselben Gegenstand. Verlangte nie etwas. Man wusste nie, was sie gerade dachte. Die beiden entwickelten ihre gegensätzlichen Rollen und spielten sie bis zum Letzten aus - die eine bestimmte, die andere folgte ihr, Haupt- und Nebenrolle wie in einem kleinen Theaterstück. Wenn ein Stückchen Süßigkeit oder ein Spielzeug da war, das sie beide wollten, ging Sherry einfach hin, warf Sharon um und holte es sich. Zuerst leistete Sharon ein bisschen Widerstand, aber sie gewann nie, und bald lernte sie, dass so oder so Sherry triumphieren würde.«
    Wieder dieses seltsame Lächeln. Beifall für den Triumph.
    Das Lächeln, das ich so oft auf den Gesichtern von unfähigen Eltern gesehen hatte, die mit extrem gestörten, aggressiven Jugendlichen belastet waren.
    Er ist so aggressiv, ein solcher Tiger. Lächeln.
    Sie hat das kleine Mädchen von nebenan

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