Sharpes Beute
glühenden Kugeln. Stattdessen kletterte der General auf die Verkleidung einer Schießscharte und starrte auf die See.
Zahllose Schiffe segelten in den Kanal. Der Anblick war geisterhaft, denn ihre weißen Segel wurden vom Mondschein erhellt. Sie schienen reglos auf dem Wasser zu liegen, denn es herrschte in dieser Nacht kaum Wind. Der General starrte. Da draußen waren Hunderte von Schiffen, viel zu viele für seine Hand voll Geschütze, und diese gespenstischen Schiffe brachten Wagen, Pferde und Soldaten nach Dänemark. Jenseits der Flotte, an der schwedischen Küste, schimmerten die Lichter der Stadt Helsingborg.
»Haben sie auf uns gefeuert?«, fragte der Captain.
»Nein, Sir.« Die Röte verschwand auf der Kanonenkugel. »Noch nicht, Sir.«
Doch in diesem Augenblick erklang ein dumpfes Donnern von der fernen Flotte, und der General sah einen roten Blitz vor einem schwarzgelben Schiffsrumpf.
»Sir!« Der Captain war ungeduldig. Er stellte sich vor, dass seine Geschütze ihre rote Glut in die dunklen Bäuche der britischen Flotte schossen. Er wollte diese Flotte brennen und in ihren Segeln Flammen züngeln sehen.
»Wartet«, sagte der General, »wartet.«
Ein weiteres Geschütz feuerte auf See, aber da war kein Geräusch einer Kanonenkugel in der Luft und kein Aufklatschen einer Kugel im Wasser. Da war nur das dumpfe Donnern, das in der Nacht verhallte und wieder auflebte, als ein drittes Geschütz feuerte.
»Sie schießen Salut«, sagte der General. »Erwidern Sie den. Keine Kanonenkugeln.«
»Wir schießen Salut für sie?« Der Captain klang ungläubig.
Der General fröstelte in der Nachtkälte und zog seinen Morgenrock fester zusammen, dann kletterte er von der Verkleidung der Schießscharte herab.
»Wir sind noch nicht im Krieg, Captain«, sagte er tadelnd. »Und sie bieten uns einen Salut, so werden wir den Gruß erwidern. Fünfzehn Geschütze, wenn ich bitten darf.«
Die rot glühende Kanonenkugel kühlte ab.
Die Schiffe segelten geisterhaft südwärts. Sie transportierten eine Armee, die gekommen war, um Dänemark zu zermalmen.
Und Dänemark schoss Salut.
Sharpe konnte Stimmen aus dem Wohnzimmer gegenüber der Halle hören, doch die Unterhaltung wurde in Dänisch geführt, und er konnte nichts verstehen. Er vermutete, dass Skovgaard seiner Tochter von Britanniens Falschheit erzählte. Eine Uhr im Haus schlug zehnmal, und es folgte eine Kakophonie der Stadtglocken.
Unter der Tür des kleinen Speisezimmers war kurz ein Lichtstreifen zu sehen, als Skovgaard oder seine Tochter mit einer Kerze nach oben gingen, dann hörte Sharpe, wie Läden geschlossen und Riegel vorgeschoben wurden. Jemand überprüfte die Tür des kleinen Raums, in dem er gefangen war, zog den Schlüssel aus dem Schloss und ging davon.
Sharpe war nicht müßig gewesen. Er hatte das Zimmer erkundet und einen Schreibtisch entdeckt. Die Schubladen enthielten nichts Nützliches, nur Leinenwäsche. Er hatte nach Holzstückchen im Kamin gesucht, mit denen er vielleicht die Tür aufbrechen konnte, doch der Kamin war leer. Die Tür hatte er ebenfalls überprüft, doch sie war solide verschlossen und ließ sich nicht bewegen.
So blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten.
Lavisser würde ihn töten. Skovgaard mochte den abtrünnigen Gardisten für einen Helden halten, aber Sharpe wusste es besser. Der Ehrenwerte John Lavisser war ein Dieb und ein Mörder. Er floh vor seinen Schulden in England, und es war kein Wunder, dass der erste Mann, der ihn hatte begleiten sollen, getötet worden war, weil Lavisser zweifellos einen sauberen Start in sein neues Land gewünscht hatte. Sharpe war für ihn nichts als Staub, der aus seinem Weg gewischt werden musste.
Und Skovgaard war keine Hilfe. Der Däne war berauscht von Lavissers patriotischem Gehabe und sonderbar beeindruckt davon, dass Lavisser ein Gentleman mit königlichen Verbindungen war. Also verschwinde von hier, dachte Sharpe. Hau ab, bevor Lavisser Barker auf dich hetzt, der die schmutzige Arbeit für ihn erledigt.
Doch die Tür des Speisezimmers war abgeschlossen, und seine Wände waren solide vertäfelt. Sharpe hatte versucht, die Bodendielen anzuheben, doch sie waren fest vernagelt und er hatte kein Werkzeug, um sie herauszureißen. Dennoch musste es einen Ausweg geben.
Er widerstrebte ihm, diese Möglichkeit zu nutzen. Aber es war ein Fluchtweg, und ihm blieb keine Wahl. Oder eine schlechte Wahl. Er konnte bis zum Morgen warten, und dann würde er Lavissers Gnade
Weitere Kostenlose Bücher