Sharpes Festung
Kurz nach dem Morgengrauen hatte er sich Major Stokes’ Fernglas geliehen und die Breschen betrachtet, und es hatte ihm nicht sehr gefallen, was er gesehen hatte, aber dies war nicht der Moment, um die Wahrheit zu sagen. »Die Hundesöhne bekommen von uns Prügel, Jungs«, sagte er stattdessen. »Ich habe jetzt zweimal gegen diese Marathen gekämpft, und sie können nichts vertragen. Sie sehen gut aus, aber wenn man ihnen Druck macht, hauen sie ab und rennen wie die Karnickel. Geht auf sie los, kämpft weiter, und sie geben auf.«
Es war die Ansprache, die Morris ihnen hätte halten sollen. Sharpe hatte nicht gewusst, dass er irgendeine Rede halten würde, als er den Mund geöffnet hatte, aber irgendwie waren ihm die Worte über die Lippen gesprudelt. Und er war froh darüber, denn die Männer waren erleichtert bei seiner Zuversicht. Dann wirkten einige wieder unruhig, als sie einen Sepoy mit der britischen Flagge in den Händen den Pfad heraufkommen sahen. Colonel Kenny und seine Adjutanten näherten sich hinter dem Sepoy, alle mit gezogenem Degen. Captain Morris nahm einen tiefen Schluck aus seiner Feldflasche, und der Geruch von Rum erfüllte die Luft.
Die Geschütze feuerten und zerbröckelten die Ränder der Breschen. Rauch und Staub quollen auf. Soldaten, die spürten, dass der Befehl zum Vorrücken jeden Augenblick gegeben werden würde, erhoben sich und nahmen ihre Waffen auf. Einige berührten in ihren Taschen Hasenfüße oder andere Talismane. Ein Mann hatte den Kampf gegen die Übelkeit verloren und erbrach sich. Andere zitterten. Schweiß lief den Männern übers Gesicht.
»Vier Glieder«, sagte Morris.
»Formieren! Schnell jetzt!«, blaffte Sergeant Green.
Eine Haubitzengranate zog im Bogen über den Himmel zur Festung und zog eine Rauchspur hinter sich her, als sie abstürzte. Sharpe hörte die Explosion und sah dann eine weitere Granate folgen. Ein Mann rannte aus den Reihen zwischen die Felsen, zog seine Hose hinunter und entleerte sich. Jeder gab vor, keine Kenntnis davon zu nehmen, bis ihnen der Gestank in die Nase stieg. Dann johlten sie spöttisch, als der verlegene Mann sich wieder einreihte.
»Das reicht!«, sagte Green.
Ein Sepoy-Trommler versetzte seiner Trommel ein paar Schläge, während ein Dudelsackspieler Luft in seinen Dudelsack blies und das Instrument dann unter seinen Ellbogen klemmte.
Colonel Kenny blickte auf seine Uhr. Die Geschütze feuerten weiter. Ihr Rauch trieb über die wartenden Männer. Der Sepoy mit der Fahne stand vor der sich bildenden Kolonne, und Sharpe nahm an, dass der Feind die Spitze der Fahne über dem Hügelkamm sehen konnte.
Sharpe nahm das Bajonett von seinem Gurt und pflanzte es auf die Muskete. Er trug nicht den Säbel, den Ahmed Morris gestohlen hatte, denn er wusste, dass die Waffe identifiziert werden konnte, und so hatte er sich von Syud Sevajee einen tulwar geliehen. Er vertraute dem Krummsäbel nicht. Er hatte zu viele indische Klingen im Kampf brechen sehen. Außerdem war er an Muskete und Bajonett gewöhnt.
»Bajonette aufpflanzen!«, befahl Morris, vom Anblick von Sharpes Klinge inspiriert.
»Und feuert nicht, bevor ihr in der Bresche seid«, fügte Sharpe hinzu. »Ihr habt nur einen Schuss, Jungs, also vergeudet ihn nicht. Ihr werdet erst Zeit zum Laden haben, wenn ihr durch beide Mauern durch seid.«
Morris runzelte die Stirn bei diesem unerwünschten Rat, doch die Männer schienen dankbar dafür zu sein, genauso dankbar, wie sie waren, weil sie nicht in den vordersten Reihen von Kennys Streitkraft angreifen mussten. Diese Ehre hatte die Grenadierkompanie des 94. Regiments, die eigentlich das Himmelfahrtskommando bilden sollte. Für gewöhnlich bestand dieses Himmelfahrtskommando, diese Gruppe von Männern, die als Erstes in eine Bresche ging, sich den feindlichen Fallen aussetzte und die unmittelbaren Feinde niederkämpfte, aus Freiwilligen. Kenny hatte entschieden, diesmal auf ein Himmelfahrtskommando zu verzichten. Er wollte die Breschen schnell füllen und so die Verteidiger durch die Überzahl überwältigen, und so folgten dicht hinter den Grenadieren der Schottischen Brigade zwei weitere Kompanien von Schotten, dann kamen Sepoys und Morris’ Männer. Hart und schnell, hatte Kenny ihnen gesagt, hart und schnell. Lasst die Verwundeten zurück, hatte er befohlen, steigt einfach durch die verdammten Breschen rauf und fangt mit dem Töten an.
Der Colonel blickte ein letztes Mal auf seine Uhr, dann klappte er den Deckel zu und
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