Sharpes Feuerprobe
weder Sharpe noch Mary etwas zu sagen.
»Ich habe diesen nackten Typen beobachtet«, bemerkte Sharpe schließlich, »und er hat sich keinen Zoll bewegt.«
»Er huldigt der Gottheit«, sagte Mary weich.
»Komisch genug. Die ganze Sache ist sonderbar.« Sharpe gestikulierte zu dem geschmückten Schrein. »Sieht wie im Zirkus aus, nicht wahr? So was kann ich mir daheim nicht vorstellen. Bemalte Clowns in der Kirche. Kannst du dir das vorstellen?« Dann fiel ihm ein, dass Mary niemals England gesehen hatte. »Es ist nicht dasselbe«, sagte er schwach, und dann nickte er zu Kunwar Singh hin, der sie stets aufmerksam beobachtete. »Du und er, wie?«, sagte Sharpe von Neuem.
Mary nickte. »Es tut mir leid, Richard. Ehrlich.«
»Es passiert, Mädchen«, sagte Sharpe. »Aber du willst nicht, dass er von dir und mir weiß, ist es das?«
Sie nickte und blickte wieder furchtsam. »Bitte?«, bettelte sie.
Sharpe schwieg, nicht um Mary auf die Folter zu spannen, sondern weil sich der fast nackte Mann schließlich doch bewegt hatte. Er hatte langsam die Hände gefaltet, aber das war schon alles gewesen, und er wurde wieder reglos.
»Richard?«, flehte Mary. »Du wirst es ihm nicht sagen, oder?«
Er schaute sie wieder an. »Ich möchte, dass du etwas für mich tust«, sagte er.
Ihr Blick wurde argwöhnisch, doch sie nickte. »Selbstverständlich. Wenn ich kann.«
»Da gibt es einen Typen namens Ravi Shekhar in dieser Stadt. Hast du den Namen verstanden? Ravi Shekhar. Er ist ein Händler. Gott weiß, was er verkauft, aber er ist hier, und du musst ihn finden. Lassen sie dich aus dem Haus?«
»Ja.«
»Dann geh raus, Mädchen, suche diesen Ravi Shekhar, und sag ihm, dass er eine Botschaft zu den Briten bringen soll. Die Botschaft lautet: Sie dürfen auf keinen Fall den Westwall angreifen. Das ist alles, genau das. Die blöden Scheißer machen sich bereit, um anzugreifen, so ist es also dringend. Wirst du das tun?«
Mary leckte sich über die Lippen, dann nickte sie. »Und du wirst Kunwar nichts über uns erzählen?«
»Ich hätte ihm ohnehin nichts erzählt«, sagte Sharpe. »Natürlich behalte ich das für mich. Ich wünsche dir Spaß mit dem Jungen, Schwester.« Er lächelte. »Schwester Aruna. Es ist schön, Angehörige zu haben, und du bist alles, was ich habe. Und ich bitte dich nicht gerne, diesen Shekhar zu suchen, doch der Lieutenant und ich, wir können es einfach nicht schaffen, zu entkommen, und so muss jemand anders die Botschaft aus der Stadt bringen. Anscheinend du.« Sharpe grinste. »Aber es sieht so aus, als hättest du jetzt die Seiten gewechselt, und ich kann es dir nicht verdenken. Macht es dir wirklich nichts aus, dies für mich zu tun?«
»Ich werde es für dich tun, das verspreche ich.«
»Du bist ein gutes Mädchen.« Er stand auf. »Küssen Brüder Schwestern in Indien?«
Mary lächelte leicht. »Ich glaube, das tun sie, ja.«
Sharpe gab ihr einen sehr anständigen Kuss auf die Wange und roch ihr Parfüm. »Du siehst großartig aus, Mary«, sagte er. »Zu großartig für mich, nicht wahr?«
»Du bist ein guter Mann, Richard.«
»Das bringt mich nicht sehr weit in dieser Welt, wie?« Er wich von Mary zurück und grinste dann Kunwar Singh an, der sich steif leicht verneigte. »Sie sind ein glücklicher Mann!«, sagte Sharpe und dann, mit einem Blick zu der großen, eleganten Frau, die sich jetzt Aruna nannte, ging er von Mary Bickerstaff fort.
Wie gewonnen, so zerronnen, dachte er, doch er verspürte auch einen Stich von Eifersucht auf den großen, gut aussehenden Inder. Aber was soll’s, dachte er. Mary tat ihr Bestes, um zu überleben, und Sharpe konnte es ihr nicht verdenken. Er tat das Gleiche.
Er hatte sich zur Kaserne gewandt, in der Gudins Bataillon einquartiert war. Er dachte an Mary und daran, wie elegant, ja sogar unnahbar sie ausgesehen hatte, und er schaute kaum auf die Straße, als ein fröhlicher Ruf ihn vor einem nahenden Ochsenkarren warnte, der mit großen Fässern beladen war.
Sharpe trat hastig zur Seite, und die Ochsen, ihre Hörner gelb und blau bemalt und mit silbernen Glöckchen behängt, zogen vorbei. Er sah, dass der leuchtend bunt bemalte Wagen eine schmale Gasse hinunterfuhr, die zu dem Turmhaus im westlichen Wall führte. Die Posten am Tor öffneten die großen Torflügel, als der Karren nahte.
Sharpe wusste instinktiv, dass da etwas nicht stimmte. Er blieb stehen und beobachtete. Vermutlich war er nahe daran, das Geheimnis der Stadt zu ergründen.
Die Wachen
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