Shelter Bay - 02 - Furienlied
sodass ihr der Regen nun fast waagerecht ins Gesicht klatschte.
Die Schulglocke läutete genau in dem Augenblick, als sie durch die Eingangstür stürzten. Der Boden war voller Wasserlachen und nasse Fußspuren verteilten sich über den ganzen Flur. Ein paar Schüler lungerten noch bei den Schließfächern herum oder eilten auf der Suche nach ihrem Klassenraum von Tür zu Tür. Zoe zog einen feuchten Stundenplan aus ihrer Tasche. »Wo muss ich hin?«, fragte sie und hielt Will das labberige Papier unter die Nase.
»Einfach den Flur runter.« Will zeigte ihr die Richtung. »Dritte Tür rechts.«
»Und du?«, wollte Zoe wissen.
»Englisch ist drüben im anderen Flügel. Ich mach mich mal besser auf die Socken.«
Zoe biss sich auf die Lippe, als Will in die entgegengesetzte Richtung davoneilte. Bis zu dem Moment, in dem sie zusehen musste, wie er sich eilig entfernte, war ihr nicht klar gewesen, wie viel Sicherheit seine Begleitung ihr gegeben hatte. Erneut überfiel sie eine Art Schwindel, ähnlich dem, den sie auf der Brücke empfunden hatte. Dass sein Klassenraum im anderen Flügel lag, gefiel ihr gar nicht. Sie wollte ihn ganz nah bei sich haben.
Zoe drehte sich zu ihrem Klassenraum um. Dabei fiel ihr jener Moment einige Wochen zuvor wieder ein, als sie im Krankenhaus aufgewacht war. Will war da gewesen. Er hatte sie auf die Stirn geküsst und von der sanften Berührung seiner Lippen war eine Wärme ausgegangen, die sich in ihrem gesamten Körper ausgebreitet hatte.
Sie war seit Jahren in Will verliebt, doch die Intensität und die möglichen Auswirkungen dieser Liebe machten ihr Angst. Aus dem Grund suchte sie sich oft andere Typen als Freund – Typen, mit denen sie sich gut verstand, die ihr jedoch nicht viel bedeuteten. So wie Jason. Er war klug und gut aussehend, hatte aber eine gemeine Ader.
Der Unterricht hatte bereits begonnen, als sie den Raum, in dem ihr Fortgeschrittenenkurs in Chemie stattfinden sollte, betrat. Sie blieb in der Tür stehen und wartete, dass die Lehrerin sich zu ihr umdrehte. Das Blut rauschte immer noch in ihren Ohren, und obwohl sie vollkommen durchnässt war, war ihr heiß. Dennoch erschauderte sie.
Die Lehrerin stand vor der Tafel und erklärte bereits, worauf sie während des Unterrichts im Labor zu achten hatten. Sie war zierlich und ihre großen braunen Augen blickten durch eine randlose Brille. Ihre kurzen Haare und die maßgeschneiderten Kleider ließen Zoe vermuten, dass sie eine von der gut organisierten Sorte war, jemand, der Lehrpläne austeilte und erwartete, dass alle Hausaufgaben pünktlich abgegeben wurden – ohne Ausreden.
»Mrs Hoover?«
»Ms Hoover«, korrigierte die Lehrerin automatisch, bevor sie fragend die Augenbrauen hochzog. Der perfekte erste Eindruck, dachte Zoe ironisch. Der Lehrerin stand die Verwunderung über ihr derangiertes Äußeres deutlich ins Gesicht geschrieben.
Ein Raunen ging durch die Klasse.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Ms Hoover, als könne Zoe unmöglich eine ihrer Schülerinnen sein.
Zoe trat ein und reichte ihrer Lehrerin den Stundenplan. »Ich bin in diesem Kurs.«
Ms Hoover las sich den Zettel durch, seufzte und sah Zoe an. »Okay, da hinten ist noch ein Platz frei. Wir gehen gerade unsere Ausstattung durch.«
Zoe nickte und machte sich auf den Weg zu dem Tisch am anderen Ende des Klassenraums, an dem bereits ein Mädchen mit langen braunschwarzen Haaren und goldener Haut neben einem leeren Stuhl saß. Die anderen Schüler grinsten und kicherten, doch ihre Sitznachbarin nickte bloß, als Zoe sich auf den Stuhl gleiten ließ. Zoes Anblick schien sie nicht im Geringsten zu überraschen oder zu stören. Als das dunkelhaarige Mädchen sie mit ihren geheimnisvollen schwarzen Augen musterte, verspürte Zoe einen plötzlichen, stechenden Kopfschmerz. Sie drückte die Finger gegen ihre Schläfen und der Schmerz verschwand so schnell, wie er gekommen war. Zoe strich mit den Fingern durch ihr feuchtes Haar, in dem vergeblichen Versuch, es annähernd in Ordnung zu bringen.
»Als Nächstes möchte ich, dass Sie alle sich einen Augenblick Zeit nehmen, um Ihre Laborausstattung zu überprüfen und sie sich dann einmal genauer anzusehen«, verkündete Ms Hoover. »Ich teile nun eine Liste aus, auf der alles steht, was Sie an Ihrem Platz vorfinden sollten.« Sie reichte den Stapel Papier einem gut aussehenden Typen in einer Sportlerjacke, der daraufhin von Tisch zu Tisch ging und die Zettel verteilte. »Stellen Sie sicher, dass alles
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