Sherlock Holmes Bisher unbekannte Fälle Sammelband 1
bei Recherchen verschafft, konnte aber auch von Nachteil sein, wenn ihn Verbrecher bereits von Weitem erkannten oder wenn uns Auskünfte verweigert wurden, aus Angst, Schwierigkeiten zu bekommen. Mit der Zeit geriet Holmes zunehmend in den Fokus der Presse, die immer, wenn er irgendwo auftauchte, eine Sensation oder wenigstens einen interessanten Fall witterte. Holmes nahm es gelassen, er schlüpfte, wann immer er es für notwendig erachtete, in eine seiner Verkleidungen. Die waren so raffiniert, dass selbst ich ihn nicht immer darin erkannte.
Hier hatte sein Name uns Zutritt zum Bahngelände und zum Zug verschafft. Aber erst warteten wir noch ungeduldig auf eine Nachricht der Straßenjungen, ob Mrs. Hudson überhaupt den Bahnhof erreicht hatte oder schon auf dem Weg dorthin entführt worden war.
Wir kauften im Bahnhofslädchen, wo es alles Mögliche gab, zwei Sandwiches und verspeisten sie, da wir nicht wussten, ob wir Zeit und Gelegenheit bekommen würden, ein gepflegtes Mittagessen zu uns zu nehmen. Und dann kam einer der Jungen angelaufen und berichtete, dass der Kutscher Henry Black die beschriebene Madame zum Bahnhof gefahren hatte. Sie kam ohne Zwischenfall hier an und verschwand im Eingang, während ein neuer Fahrgast den Kutscher und sein Gefährt in Anspruch nahm. Falls wir noch Fragen hätten, könnten wir den Herrn abends zu Hause aufsuchen. Der Junge gab uns die Adresse.
Holmes dankte und gab ihm einige Banknoten. Dann trieb er zur Eile.
„Kommen Sie, Watson, kommen Sie, zum Zug.“
„Wollen wir den ganzen Zug durchsuchen?“, fragte ich. Das würde fraglos ewig dauern.
„Watson, strengen Sie Ihr Gehirn an!“, ermahnte mich Holmes, während wir zügig zum Wartegleis liefen. „Wo wird denn wohl eine alleinreisende Dame im Zug reisen?“
„Wo sie denn reisen wird? Ich habe keine Ahnung, Holmes!“
„Na doch mit Sicherheit im ersten Waggon! Dort ist sie nahe beim Zugführer und der Schaffner hält sich auch die meiste Zeit im ersten Waggon auf, wenn er nicht seinen Rundgang macht, um die Fahrkarten zu lochen. Dort ist eine Dame ohne schützende Begleitung am sichersten.“
Wir betraten den ersten Wagen und Holmes musterte den Boden. Erleichtert sagte er: „Hier wurde noch nicht gereinigt, wir dürfen Hoffnung haben, Spuren zu finden, Watson. Also Augen auf!“
Ich hatte meine Augen offen, besah mir Sitzbänke, die Wände, ob vielleicht Mrs. Hudson vor ihrer Entführung aus dem Zug Zeit gehabt hatte, noch einen Hinweis zum Beispiel an die Wand zu schreiben.
„Sehen Sie, Watson!“, rief Holmes und bückte sich. Unter einer Sitzbank zog er einen weißen Handschuh hervor und ein Stück Papier.
„Mrs. Hudsons Handschuh! Hier sehen Sie, die Initialen A. S. H., Anne Sophie Hudson.“
„Tatsächlich“, brachte ich heraus. „Und der Zettel?“
„Es ist die Quittung von einem Pfandleiher in London. Jemand hat eine Standuhr versetzt und einhundert Pfund erhalten. Eine hübsche Summe. Es muss der Entführer gewesen sein.“
„Das glaube ich nicht, Holmes. Es könnte Zufall sein, dass Handschuh und Quittung zusammen unter der Bank lagen“, zweifelte ich.
„Unsinn, Watson! Wie soll der Handschuh unter die Sitzbank geraten sein? Wenn Mrs. Hudson ihn verloren hätte, wäre er gerade zu Boden gefallen. Hat ihn der große Geist unter die Bank geschoben? Das gleiche gilt für die Quittung. Ich sehe die Sache folgendermaßen, Watson:
Mrs. Hudson suchte sich hier ihren Platz. Der Entführer setzte sich zu ihr, wartete aber noch den Durchgang des Schaffners ab, ehe er sie, vermutlich mit einer Waffe bedrohend, aus dem Zug brachte. Ob bei einem Unterwegshalt oder am Endbahnhof Brighton müssen wir noch herausfinden. Als der Entführer die Fahrkarte aus der Brieftasche holte, fiel die Quittung unbemerkt herunter. Und als er unsere Wirtin mit der Waffe aus dem Abteil drängte, ließ sie unauffällig den Handschuh fallen und schob ihn mitsamt dem Zettel unter die Sitzbank, als Hinweis für uns. Sie konnte sich natürlich denken, dass wir nach ihr suchen und uns auch den Zug anschauen werden.“
„Meinen Sie wirklich, Holmes? Eine schlaue Tat, meine Hochachtung. Aber Sie haben recht, so könnte es gewesen sein.“
„Könnte, Watson? Könnte? Nein, so war es. Wir müssen zum Pfandleiher in die Lillie Road in Kensington!“
Eine Droschke brachte uns in kurzer Zeit nach Kensington, es war nicht weit. In der Lillie Road, einer breiten Straße, befanden sich viele Geschäfte und Restaurants. Der
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