Sherlock Holmes Bisher unbekannte Fälle Sammelband 1

hatte, schreiben.
    Plötzlich schellte es an der Haustür. Mangels der Anwesenheit unserer Wirtin begab ich mich zum Eingang, um nachzuschauen, wer noch zu so später Abendstunde bei uns Einlass begehrte. Wir erwarteten niemanden. Als ich die Tür öffnete, stand kein Besucher vor mir und die Bakerstreet lag menschenleer im letzten Licht der Sonne da. Auf der Türschwelle entdeckte ich einen Brief, den ich kopfschüttelnd an mich nahm. Er enthielt auf der Vorderseite nur die Initialen S. H. und besaß weder Adresse noch Absender.
    Nach einem letzten Blick in die Runde brachte ich den Brief zu Holmes, der mir mit den Worten: „Na, Watson, niemand da gewesen?“ entgegensah.
    „Woher wissen Sie das denn schon wieder?“, fragte ich erstaunt.
    „Nun, ich hörte keine Droschke vorfahren. Natürlich hätte ein Besucher auch per pedes zu uns kommen können, doch Ihr leicht verwirrter Gesichtsausdruck und die Abwesenheit einer weiteren Person sagen mir, dass dem nicht so war. Was haben Sie in der Hand?“
    „Ein Brief lag auf der Türschwelle. Er ist für Sie.“
    Holmes musterte das Schreiben, die Initialen und machte „Hm“, dann öffnete er den Umschlag, zog das Blatt heraus und begann, halblaut vorzulesen:
     
    „ Sherlock Holmes, Ihre Wirtin, Mrs. Anne Sophie Hudson, ist in meiner Gewalt und wird an einem geheimen Ort festgehalten. Da ich weiß, wie sehr Ihnen die Dame am Herzen liegt und Sie um ihr Wohlergehen besorgt sind, werden Sie tun, was ich von Ihnen verlange. Sie haben den morgigen Tag Zeit, eintausend Pfund in bar aufzutreiben, welche Sie in die Victoria Park Road Nummer 89, nördlich des Victoria Parks, bringen werden. Im Hausflur des Mehrparteienhauses stecken Sie das Geld in den Briefkasten mit der Aufschrift M. Jones, und das genau um acht Uhr abends. Kommen Sie nicht früher und nicht später, verlassen Sie sofort wieder das Gebäude und versuchen Sie keine Tricks. Mister Watson darf Sie natürlich begleiten, aber niemand sonst. Andernfalls erreicht Sie das nächste Mal ein Paket mit einem Körperteil der genannten Dame. Das gilt auch für den Fall, dass Sie die Polizei hinzuziehen.
    Diesmal belasse ich es nur bei einem körperlichen Beweisstück, dessen Verlust Ihrer Wirtin keine Schmerzen bereiten sollte.“
     
    Holmes‘ Stimme war immer lauter und schärfer geworden, jetzt blickte er mich ernst an und fragte: „Körperliches Beweisstück? Was meint der Kerl?“
    Ich hob ratlos die Schultern. Er schaute noch einmal in den Umschlag und zuckte beinahe unmerklich zusammen. Dann schüttelte er eine dunkelblonde Haarsträhne heraus, die von einzelnen grauen Haaren durchzogen war.
    Ich holte tief Luft. „Die arme Mrs. Hudson! Was hat man ihr angetan?“
    „Na, Watson, bis jetzt hat er ihr nur eine Locke abgeschnitten und uns als Beweis geschickt, dass sie in seiner Gewalt ist.“
    „Er?“, fragte ich.
    „Der Handschrift nach ist es ein Mann. Die Anrede, das gruß- und unterschriftslose Ende und der Schreibstil lassen auf einen arroganten, nicht ungebildeten Mann schließen, der vom Erfolg seiner Erpressungsaktion überzeugt ist. Er kann natürlich Komplizen haben, aber das Schreiben stammt zweifelsfrei von einem Mann.“
    „Ich halte ihn eher für unverschämt, wenn er sich mit Ihnen misst und vom Erfolg seiner Erpressung überzeugt ist, aber arrogant?“
    „Watson, alle Verbrecher sind von ihrem Tun überzeugt, und davon, nicht geschnappt zu werden, sonst würden sie ja die Verbrechen nicht begehen!“
    „Wir müssen sofort nach Brighton, die Schwester und ihre Familie aufsuchen“, rief ich, doch Holmes schüttelte den Kopf.
    „Was sollen wir dort? Mrs. Hudson ist nicht bei ihrer Schwester angekommen, offensichtlich stammte der Brief nicht von ihr, sondern vom Erpresser, um sie aus dem Haus zu locken. Wenn wir jetzt bei der Schwester auftauchen, versetzen wir sie nur in Angst und Sorge. Die Frau weiß von nichts und kann uns nicht helfen, denke ich. Wenn alles vorbei ist und Mrs. Hudson wohlbehalten wieder bei uns ist, wird die Schwester informiert werden. Nein, Watson, wir werden schlafen, damit wir morgen frisch und ausgeruht den Fall angehen und unserer armen Wirtin helfen können.“
    „Sollten wir nicht auch das Geld besorgen und bereithalten? Die Zeit ist sehr knapp bemessen bis morgen Abend, und wenn wir den Fall nicht so schnell lösen sollten, ... Nun ja, also ich besitze ...“
    „Das Geld ist schnell von der Bank geholt, die Bank of England hat bis sechs geöffnet. Aber das