Sherlock Holmes - Das ungelöste Rätsel
Kette.
Es war fast wie der niedergehende Anker eines Schiffes. Nach einigen Umdrehungen des Rades lag die Kette am Boden.
Dr. Maltravers stand auf und bot seiner Mutter seinen Stuhl an. Sofort setzte sie sich darauf und begann, die Bilder in einem aufgeschlagenen Buch zu betrachten. Es war eine illustrierte Ausgabe von Alice im Wunderland .
„Nehmen Sie ihr den Helm ab!“
„Das werde ich nicht tun!“
Ich hob die Webley. „Dr. Maltravers!“
„Gut! Auf Ihre Verantwortung! Aber Sie wissen nicht, was Sie anrichten.“ Er zog eine Art Taschenmesser aus der Hosentasche, klappte etwas heraus und löste eine Schraube am Helm. Die Augen der alten Frau begannen sich mit Leben zu füllen. Als die Kette zu Boden fiel, stand sie auf. Jefferson, der neben Dr. Maltravers Aufstellung genommen hatte, schaute seinen Herrn besorgt an. Der zuckte die Schultern.
Was kann ich schon tun?, schien er sagen zu wollen.
Dr. Maltravers’ Mutter blickte erst ihren Sohn an, dann Jefferson.
Maltravers griff nach der Hundepeitsche. Im nächsten Augenblick sprang die alte Dame mit einer wilden Kraft, die ich ihrem zerbrechlich wirkenden Körper niemals zugetraut hätte, und aufgerissenem Mund Jefferson an, der sofort zurückzuweichen und sie mit den Händen abzuwehren versuchte.
Dabei entrangen sich dem Mund der Frau Schreie, die nicht von dieser Welt zu sein schienen. Es war die eines hungrigen Tieres. Schreie voller Bestialität, die nichts Menschliches mehr zu haben schienen.
Sie packte den Hals des wesentlich größeren Jefferson, um seinen Kopf zu sich herunterzuziehen. Sie wollte ihn wirklich beißen! Jefferson schrie entsetzt auf.
„Mutter!“, brüllte Dr. Maltravers. „Mutter, gib dich! Platz! Ab!“ Die Worte klangen, als wären sie an einen Hund gerichtet. Er hob die Peitsche und begann, auf Kopf und Rücken seiner Mutter einzuprügeln. Sie schien die Schläge nicht einmal zu spüren.
„Verzeih mir“, rief Dr. Maltravers unter Tränen.
Ich sicherte die Webley, nahm sie in die Linke und ergriff mit meiner Rechten einen Arm der alten Frau, die sich verzweifelt wehrte.
Dr. Maltravers hörte auf zu peitschen. Mit Mühe gelang es mir, die tobende Frau von dem Butler wegzuziehen. Holmes sprang vor und drehte ihr den linken Arm auf den Rücken, so dass sie sich, um den Schmerz zu mildern, nach vorne bückte. Das musste einer seiner Baritsu-Griffe sein! Die Frau fuhr fort zu schreien, konnte sich aber kaum mehr bewegen. Zwischen ihren Zähnen hing ein Fetzen schwarzen Stoffs. Den hatte sie aus Jefferson Jackenärmel herausgebissen. Schaum lief ihr aus dem Mund, über das Kinn und tropfte zu Boden. Ich war fassungslos.
Dr. Maltravers hob rasch die Kette auf, befestigte sie wieder an dem Helm und arretierte sie mit dem kleinen Werkzeug. Dann eilte er nach draußen, um die Kette wieder straff zu ziehen. Holmes ließ los.
Wenige Augenblicke stand Mrs Maltravers wieder bewegungslos in der Mitte des Zimmers. Ihr eben noch wilder Blick erlosch.
„Ich schulde Ihnen ein Dutzend Kniefälle, Dr. Maltravers“, sagte Holmes. „Ich hätte das nie und nimmer für möglich gehalten.“
„Dito“, schloss ich mich an.
Schwer atmend winkte Dr. Maltravers ab. „Wenn man es nicht selbst erlebt, ist es schwer zu glauben. Alles in Ordnung, Jefferson?“, fragte er seinen Butler.
Der lehnte schreckensbleich und stumm an der Wand und zupfte fassungslos an dem weißen Hemd, das aus dem Loch in seinem aufgerissenen Jackenärmel herausschaute. Dann straffte sich seine Gestalt. „Jawohl, Sir. Danke Sir. Alles in Ordnung!“ Jefferson war wirklich ein Musterbeispiel britischer Dienerschaft!
Die Unerschütterlichkeit solcher Menschen hat das Empire zu dem gemacht, was es ist.
Wir dagegen – Holmes und ich – hatten uns ins Unrecht gesetzt.
Im Glauben, ein Irrer hielte seine hilflose Mutter auf grausame Weise als Gefangene, hätten wir um ein Haar ein großes Unglück angerichtet. Mrs Maltravers war tatsächlich schwer krank. Holmes griff in die Tasche und reichte Dr. Maltravers ein Telegramm.
„Ich hatte für das Ende dieses Falles Vorsorge getroffen, Dr. Maltravers“, erklärte er. Der Doktor begann, den Text zu lesen – die letzten Worte laut: „...wäre es mir eine Ehre, den Patienten stationär in meinem Privatsanatorium aufzunehmen, zu untersuchen und zu behandeln.“ Dr. Maltravers hob die Stimme. „Sir Hillary Bentingham, Medical Doctor, Professor der Nervenheilkunde. Der Sir Hillary Bentingham?“
„Eben der“,
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