Sherlock Holmes - Der Vampir von Sussex
gab er für die nächste halbe Stunde kein Anzeichen von sich, daß er sich meiner Gegenwart überhaupt be-wußt war. Dann schien er mit einem Zusammenzucken aus tiefen Gedanken herauszukom-men. Mit dem kapriziösen Lächeln, das so typisch für ihn war, begrüßte er mich in meinem früheren Zuhause.
»Mein lieber Watson, Sie müssen entschuldigen, wenn mein Geist im Augenblick nicht ganz hier ist«, sagte er. »Mir sind in den letzten vierundzwanzig Stunden ein paar seltsame Fakten vorgelegt worden. Diese haben wiederum für ein paar Spekulationen genereller Natur Anlaß geboten. Ich habe ernsthaft vor, eine kleine Monographie über die Verwendung von Hunden bei der detektivischen Arbeit zu schreiben.«
»Aber Holmes«, sagte ich. »Dieses Gebiet ist doch längst erforscht worden - Bluthunde, Schnüffelhunde ... «
»Nein, nein, Watson, diese Seite der Sache ist natürlich längst klar. Aber es gibt noch eine andere, subtilere Seite. Wollen Sie sich bitte an den Fall erinnern, den Sie auf ihre sensatio-nelle Weise »Die Rotbuchen« genannt haben? Dort hatte ich die Möglichkeit, das Verhalten eines Kindes zu studieren und von dort die Schlußfolgerung auf das kriminelle Verhalten des äußerlich sehr ordentlichen und anständigen Vaters zu schließen.«
»Ja, daran erinnere ich mich gut.«
»Meine Gedankengänge wegen des Hundes sind analog. Auch in einem Hund spiegelt sich das Familienleben wider. Wer hat denn schon einen fröhlichen kleinen Hund in einer düsteren Familie erlebt? Oder einen traurigen Hund in einer fröhlichen Familie? Knurrige Leute haben knurrende Hunde, gefährliche Leute haben gefährliche Hunde. Ihre vorübergehenden Launen spiegeln die Launen der anderen wider. «
Ich schüttelte meinen Kopf. »Ach Holmes, das scheint mir nun aber wirklich ein bißchen weit hergeholt zu sein«, sagte ich. Er hatte seine Pfeife wieder gestopft und sich erneut auf seinem Platz niedergelassen. Von meinem Einwurf nahm er keine Notiz.
»Die praktische Anwendung von dem, was ich eben gesagt habe, ist eng mit dem Problem verbunden, das ich gerade untersuche. Es ist eine verworrene Angelegenheit, müssen Sie ve rstehen und ich suche nach einem losen Ende. Ein mögliches loses Ende liegt in der Frage
»Was könnte Professor Presburys Wolfshund veranlassen, ihn zu beißen?«
Enttäuscht ließ ich mich in den Sessel zurückfallen. Hatte er mich wegen dieser nichtigen Arbeit von meinen Kranken fortgeholt? Holmes sah zu mir herüber.
»Der gleiche alte Watson!«, sagte er. »Niemals werden sie le rnen, daß schwerwiegende Dinge an den kleinsten Kleinigkeiten hängen können. Aber mutet es Sie nicht schon beim ersten Hö-
ren als befremdlich an, daß ein ruhiger, älterer Philosoph, von stetem Charakter - Sie haben doch sicher von Presbury gehört, dem berühmten Camforder Physiologen? - können Sie ve rstehen, daß ein solcher Mann, dessen ergebener Freund der Wolfshund gewesen war, zweimal hintereinander von seinem eigenen Hund angegriffen wird? Was halten Sie davon?«
»Der Hund ist krank.«
»Nun, das könnte man ins Kalkül ziehen. Aber zu allen anderen im Haushalt verhält er sich lammfromm. Auch greift er seinen Herren nur zu besonderen Zeiten an. Seltsam, Watson, sehr seltsam. Aber der junge Mr. Bennett kommt zu früh, wenn das sein Klingelzeichen ist.
Ich hatte gehofft, länger mit Ihnen plaudern zu können, bevor er kommt. «
Schnelle Schritte waren auf der Treppe zu hören. Einen Augenblick später stand der neue Klient vor uns. Er war ein großer, hübscher junger Mann, um die Dreißig herum. Er war gut und elegant gekleidet, aber etwas in seinem Gehabe wies eher auf die Schüchternheit eines Studenten hin, als auf das selbstbewußte Betragen eines Mannes von Welt. Er schüttelte Mr.
Holmes die Hand und sah mich mit einiger Überraschung an.
»Die Angelegenheit ist sehr delikat, Mr. Holmes«, sagte er. »Bedenken Sie bitte das Verhältnis, in dem ich zu Professor Presbury, sowohl privat als auch öffentlich stehe. Ich kann es kaum rechtfertigen, vor einer dritten Person zu reden.«
»Haben Sie keine Sorge, Mr. Bennett. Dr. Watson ist die Diskretion selbst und ich kann Ihnen außerdem versichern, daß wir in diesem Fall seiner Hilfe dringend bedürfen werden.
Dr. Watson, ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig. Dieser Herr, Mr. Trevor Bennett, ist der Assistent des großen Naturwissenschaftlers. Er wohnt unter seinem Dach und ist mit seiner einzigen Tochter verlobt. Es ist natürlich klar,
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