Sherlock Holmes - Der verwunschene Schädel
Sie bitte einen Stadtplan aus, Watson. Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Eigentlich wollte ich mit Ihnen direkt zum Hotel und einen der Verursacher stellen, aber unser Treffen wurde ja rüde verhindert, wie Sie wissen.“ Ich tat, wie mir geheißen, und entrollte einen von Holmes’ in Planquadrate eingeteilten Stadtplan auf dem großen Wohnzimmertisch.
Holmes deutete mit dem Mundstück seiner Pfeife auf eine Stelle neben einer der Falzkanten des Plans. „Sehen Sie, die meisten Unfälle sind auf drei relativ nahe beisammen liegenden Kreuzungen passiert.
Hier. Und hier. Und hier. Wenn man ...“
Ein Läuten unterbrach Holmes’ Erklärungen. Ich öffnete die Tür, und wieder einmal stürmte der ältere der beiden Holmes-Brüder wie ein Rhinozeros herein. „Du hattest recht, Sherlock!“, rief Mycroft laut und dröhnend. „Drei irische Zauberer! Jeder hatte seine Bücher und ein Totem dabei.“
„Irische Zauberer?“, echote ich verwirrt.
„Hat er Ihnen nichts erzählt?“, fragte Mycroft erstaunt.
„Ich war gerade dabei, als du hier reingeplatzt bist“, sagte Holmes und lehnte sich lässig gegen den Kaminsims. Ich bemerkte, dass er seine lädierte Hand vor seinem Bruder verbarg, indem er sie unter den Mantel schob. „Wie gesagt, Watson: Man kann die Sache auf diese Kreuzungen eingrenzen. Natürlich ist das weder einem von Lestrades, noch einem von Mycrofts Männern aufgefallen. Wahrscheinlich ist es zu offensichtlich.“ Mein Freund tat, als bemerke er den eisigen Blick seines Bruders nicht, schlenderte zu uns und klopfte mit dem Pfeifenstiel auf die Karte. „Als mir klar war, dass wir es mit Gremlins zu tun haben, überlegte ich, was die Kerlchen dazu verleiten könnte, sich in einem kleinen Gebiet in der Innenstadt an uninteressanten Kutschen zu vergreifen. Die Antwort war schließlich nahezu offensichtlich, wenn man die letzten Tage Zeitung gelesen hat und sich die Gästelisten der Hotels in der Nähe der Unfallorte näher betrachtete.“
Ich hatte zwar die Zeitungen gelesen – trotzdem wusste ich nicht, was mein Mitbewohner meinte, und machte eine entsprechende Bemerkung.
„Die irische Unabhängigkeitsbewegung, Watson“, half mir mein Freund ungeduldig auf die Sprünge. „Oder anders gesagt: Die besonders militanten Anhänger von Mr Charles Stewart Parnell.“ Holmes zog an seiner Pfeife. „Und in welchem Land kennt man sich bestens mit Kobolden aus, Watson? Na? Mycroft?“
„Irland.“ Mycroft nahm den Zylinder ab und fuhr sich durch das mit jedem Jahr lichter werdende Haar. Der langjährige Dienst für das Empire forderte auch von ihm langsam aber sicher seinen Tribut. „In den Hotels um die Kreuzungen waren drei Iren eingeschrieben. Wir haben die Kerle festgenommen und befragt.“ Ich konnte mir in etwa vorstellen, wie eine Befragung durch Mycrofts Schergen aussah, die auch einen preußischen Spion oder einen Agenten des Zaren mit Leichtigkeit zum Reden brachten. „Sie haben gestanden.“ Mycroft wirkte sehr mit sich und seinen Untergebenen zufrieden. „Die Gremlins standen unter dem Bann der Zauberer. Jetzt müssen wir nur noch klären, in wie weit die Männer autonom gehandelt haben, oder ob sie nicht doch von den Home-Rule-Sympathisanten angestiftet worden sind.“
Mein Freund nickte. „Sehr schön.“
Mycroft und ich starrten den Detektiv entsetzt an.
Die große Standuhr neben dem Kamin tickte laut.
Holmes erwiderte unseren Blick gelassen. „Jetzt, da die Zauberer festgenommen sind und ihre Bannsprüche nicht erneuern können, sind die Gremlins frei. Ich denke, dass sie nach Irland zurückkehren.“ Ein Lächeln stahl sich auf sein scharf geschnittenes Raubvogelgesicht. „Rache ist für das Koboldvolk elementar wichtig. Sie besitzt gewissermaßen Tradition. Und die kleinen Kerle mögen es gar nicht, wenn man sie einfach so versklavt ...“
Florian Hilleberg
studierte sieben Semester Forstwirtschaft.
Nach seinem Abschluss absolvierte er eine weitere Ausbildung zum Beruf des Gesundheits- und Krankenpflegers, in dem er nach seinem Examen im September 2006 arbeitet.
Seine Tätigkeit als Rezensent begann mit der Bewertung von John-Sinclair-Romanen für die Internetseite www.gruselromane.de.
Florian Hilleberg ist seit Gründung des Literaturportals LITERRA einer der drei Masterminds, Chefredakteur des Hörbuch-/Hörspielbereichs, bestreitet eine Kolumne rund um die Werke von Dan Shocker und vieles mehr.
Neben seiner Online-Serie Tot und durstig auf LITERRA finden sich
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