Sherlock Holmes - Der verwunschene Schädel
angemessenem Vokabular, ließ ich es sein. Seine Besuche waren nicht mehr so ausgedehnt wie noch vor einem Jahr, und ich wollte die wenige Zeit nicht mit Streitgesprächen vergiften. Umso dankbarer war ich, dass Watson die Zeit erübrigte und mich heute zu meiner kleinen Exkursion begleitete, doch musste ich schweren Herzens sein Angebot ablehnen, meine Untersuchungen im Wald zu unterstützen. Seine Anwesenheit war mir selbstverständlich äußerst willkommen, schaffte er es doch immer wieder, mich mit seinen Einwürfen auf das Angenehmste zu zerstreuen. Allerdings hätte mir seine derzeitige Beobachtungsgabe – oder sollte ich sagen: eingeschränkter Beobachtungswille? – bei meinen Untersuchungen dieses Mal im Weg gestanden. Es war ohnehin von enormer Schwierigkeit, auf einem Waldboden nach Gegenständen zu suchen. Wusste man hingegen nicht einmal exakt, wo danach gesucht werden musste, war die Gefahr ungleich größer, dass ein unachtsamer Schritt jeden Beweis vernichtete. Watson blieb also nach einem kurzen Disput enttäuscht zurück. Ich schlenderte in den lichten Wald, den Blick fest auf den Boden geheftet, um nach dem mutmaßlichen Täter meines Kriminalfalls zu suchen: dem Psilocybe semilanceata. Dem spitzkegeligen Kahlkopf – einem Pilz. Scotland Yard hatte mich zu Rate gezogen, nachdem einige hochgestellte Persönlichkeiten den Tod fanden. Sie starben fast zeitgleich bei einer Schnitzeljagd im Epping Forest. Wenn ich den Äußerungen des hinzugezogenen Arztes Glauben schenken durfte, waren sie dem Wahnsinn nahe gewesen, wiesen stark gerötete Augen auf und irrten bis zur Erschöpfung ziellos umher, wobei sie nicht wussten, wo sie sich zu dem Zeitpunkt befanden. Da der zu diesem Fall aufgesuchte Hellseher aufgrund von „kosmischen Störungen keine Schwingungen empfing“ – ein Originalzitat, das ich nicht kommentieren werde! – übergab man mir den Fall. Ich zeigte den Bericht dem Arzt meines Vertrauens und stellte mit ihm eine Liste geeigneter Täter auf, nicht ohne jedoch vorher einige Exkursionen zu absurden Studien der Parawissenschaften über mich ergehen zu lassen sowie zu Dingen, die sich unserem Verständnis entziehen.
Nun, es entzog sich keinesfalls meinem Verständnis, dass mein guter Watson eindeutig zu viel Zeit mit den Gentlemen aus dem Schwarzen Salon verbrachte. Jeder Akademiker, der etwas auf sich hielt, ließ sich regelmäßig in dem Etablissement blicken und tauschte seine Meinung zu parawissenschaftlichen Themen aus. Watson bildete da keine Ausnahme und mir schien, dass er mir mit jedem Besuch weiter entglitt und weniger zugänglich für die inspirierenden Gespräche war, die wir noch vor wenigen Monaten geführt hatten.
Ich war so von meiner Suche gefangen, dass ich das stetige Voranschreiten der Uhrzeit vollends verdrängte. Als ich eine kurze Pause machte und einen Blick auf meine Taschenuhr warf, war nach meinem Empfinden keine halbe Stunde vergangen. Tatsächlich jedoch neigte sich der Nachmittag inzwischen dem Ende zu. Außer in gebückter Haltung durch das Unterholz zu schleichen, Boden und Baumstämme zu überprüfen und einige Notizen zu verfassen, hatte ich noch keine Erfolge vorzuweisen.
Meine Zunge klebte am trockenen Gaumen und erinnerte mich daran, dass ich eine kleine Verpflegung hatte einstecken wollen. Ich war einfach nicht gut in solchen Dingen, hatte mich bisher immer darauf verlassen können, dass Watson schon dafür sorgte, alles Wichtige bei der Hand zu haben. Aber mein Freund war nicht hier, sondern stand vermutlich noch immer missgelaunt am Waldesrand, während ich mich tief in das Herz des Forstes vorangetastet hatte. Poröse, kahle Stämme dicht gedrängter Nadelbäume wuchsen schief in den Himmel und schirmten den moosüberwucherten Boden von der sommerlichen Hitze ab. Ein erdiger, leicht modriger Geruch stieg mir in diesem Teil des Waldes in die Nase, der nichts mit dem eher nussigen Duft des sonnendurchfluteten Forstes zu tun hatte. Hier gediehen Pflanzen, die den Schatten suchten, sich hinter grauen Stämmen versteckten und ihren Wirten gleichzeitig das Leben aussaugten. Ein nicht geneigter Beobachter hätte diesen Bereich des Waldes vielleicht vorschnell als unwirtlich bezeichnet, doch mein Herz schlug bei dem Anblick des zwielichtigen Dickichts höher. Wenn ich hier keine Spur des Kahlkopfes fand, dann nirgends.
Ich wischte den niedrighängenden Ast einer Fichte beiseite und tauchte tiefer in das Unterholz jenseits des Weges ein. Das Licht
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