Sherlock Holmes - gesammelte Werke
verschwindet vor uns«, sagte Holmes, als wir auf dem Bahnhof standen und den von London kommenden Schnellzug erwarteten. »Bald werde ich in der Lage sein, eine einfache, zusammenhängende Darstellung eines der seltsamsten und sensationellsten Verbrechen der Gegenwart zu geben. Wer sich speziell für Kriminalistik interessiert, wird sich des ähnlichen Falles erinnern, der sich im Jahr 1866 in Grodno in Klein-Russland zutrug. Außerdem natürlich der Anderson’schen Mordtaten in Nord-Carolina; aber unser Fall hier weist einige Züge auf, die in ihrer Art ganz einzig dastehen. Selbst jetzt haben wir noch keinen ganz klaren Beweis gegen diesen überaus verschlagenen Mann. Aber es sollte mich außerordentlich wundern, wenn nicht alles vollkommen aufgeklärt wäre, ehe wir heute Nacht zu Bett gehen.«
In diesem Augenblick kam der Londoner Schnellzug mit betäubendem Lärm herangebraust. Er hielt, und ein kleiner, stämmiger Mann mit einem Bulldoggengesicht sprang aus einem Abteil erster Klasse auf den Bahnsteig. Wir schüttelten uns alle drei die Hand, und ich sah sofort an der ehrerbietigen Art, wie Lestrade meinen Freund ansah, dass er seit unserem ersten Zusammenarbeiten mancherlei gelernt hatte. Ich erinnerte mich noch sehr gut des verächtlichen Spottes, womit der Mann der Praxis die Theorien des Grüblers abgetan hatte.
»Haben Sie was Gutes für mich?«, fragte der Beamte.
»Den großartigsten Fall, der seit Jahren vorgekommen ist!«, antwortete Holmes. »Wir haben zwei Stunden zu unserer freien Verfügung. Ich glaube, wir können sie nicht besser anwenden, als indem wir einen Bissen essen; und dann, Lestrade, sollen Sie den Londoner Nebel aus Ihrer Kehle los werden und dafür ein bisschen reine Nachtluft von Dartmoor einatmen. Sie waren noch niemals hier? Na, ich denke, Sie werden Ihren ersten Besuch schwerlich vergessen.«
V IERZEHNTES K APITEL
Zu Sherlock Holmes’ Fehlern – vorausgesetzt, dass es überhaupt ein Fehler genannt werden kann – gehörte es, dass er eine große Abneigung dagegen hatte, von seinen Plänen etwas mitzuteilen, bevor der Augenblick der Ausführung dazu da war. Zum Teil beruhte dies unzweifelhaft auf der Überlegenheit seiner Natur: er liebte es, sich als Herrn und Meister zu zeigen und seine Umgebung zu überraschen. Zum anderen Teil aber lag es in der ihm angeborenen und in seinem Beruf noch mehr ausgebildeten Vorsicht; er wollte nichts auf unvorhergesehene Zufälle ankommen lassen. Sei dem wie ihm wolle – das Ergebnis war eine harte Geduldsprobe für seine Helfer und Mitarbeiter. Ich hatte schon oft darunter gelitten, aber niemals so sehr wie während unserer langen Fahrt in der Dunkelheit. Der große Schlag stand unmittelbar bevor, endlich sollte die Entscheidung fallen – und doch hatte Holmes noch kein Wort gesagt, und ich konnte mich nur in Vermutungen über das von uns einzuschlagende Verfahren ergehen. Meine Nerven waren fast bis zur Unerträglichkeit angespannt, als ich rechts und links von unserem schmalen Landweg düstere weite Flächen bemerkte und an dem mir ins Gesicht schlagenden kalten Wind erkannte, dass wir wieder auf dem Moor angelangt waren. Jeder Sprung der Pferde, jede Umdrehung der Räder brachte uns dem Ende unseres Abenteuers näher.
Da der Kutscher auf dem Bock unseres Mietwagens jedes Wort hören konnte, mussten wir uns in unserem Gespräch großen Zwang antun und durften uns nur über gleichgültige Gegenstände unterhalten; das fiel uns in unserer begreiflichen Aufregung nicht leicht. Ich atmete daher erleichtert auf, als wir bei Franklands Haus vorbeikamen; endlich näherten wir uns Baskerville Hall und damit dem Schauplatz der Handlung. Wir fuhren nicht beim Haupteingang vor, sondern ließen den Wagen in der Allee halten und stiegen aus. Der Kutscher wurde abgelohnt, und wir machten uns zu Fuß auf den Weg nach Merripit House.
»Sind Sie bewaffnet, Lestrade?«
Lächelnd antwortete der Detektiv:
»Solange ich meine Hosen anhabe, habe ich eine Hüfttasche, und solange ich meine Hüfttasche habe, ist auch was drin.«
»Gut! Mein Freund und ich haben uns ebenfalls für alle Eventualitäten vorgesehen.«
»Sie sind sehr verschlossen, Mr Holmes. Mit was für ’ner Art von Spiel haben wir’s denn eigentlich zu tun?«
»Mit einem Geduldsspiel.«
»Wahrhaftig, das scheint hier keine sehr nette Gegend zu sein!«, bemerkte der Detektiv, indem er fröstelnd seinen Überrock dichter zuzog und dabei einen Blick auf die düstere Hügelkette warf und
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