Sherlock Holmes - gesammelte Werke
Untersuchung wird wahrscheinlich nicht nur Ihr Freund Mr Stapleton verwickelt werden, sondern vielleicht auch seine Frau.«
Die Dame sprang von ihrem Stuhl auf und rief:
»Seine Frau?«
»Diese Tatsache ist kein Geheimnis mehr. Die Person, die für seine Schwester galt, ist in Wirklichkeit seine Frau.«
Mrs Lyons hatte sich wieder gesetzt. Ihre Hände umfassten krampfhaft die Armlehnen des Stuhls – so krampfhaft, dass von dem Druck die rosigen Fingernägel weiß wurden.
»Seine Frau!«, wiederholte sie. »Seine Frau! Er war ja niemals verheiratet!«
Sherlock Holmes zuckte nur stumm die Achseln.
»Beweisen Sie’s mir! Beweisen Sie’s mir! Und wenn Sie das können …«
Der Blitz, der aus ihren Augen sprühte, sprach deutlicher als Worte.
»Ich war auf Ihr Verlangen gefasst und hatte mich deshalb auf diesen Besuch vorbereitet«, sagte Holmes. Dabei zog er mehrere Papiere aus der Tasche. »Hier ist eine Fotografie des Paares; sie ist vor vier Jahren in York aufgenommen worden. Auf der Rückseite steht: ›Mr und Mrs Vandeleur‹, aber Sie werden ihn ohne Schwierigkeiten erkennen und sie ebenfalls, wenn Sie sie von Ansehen kennen. Hier sind als Aussagen glaubwürdiger Zeugen die Beschreibungen des Aussehens von Mr und Mrs Vandeleur, die damals die Privatschule von St. Oliver leiteten. Lesen Sie sie und sagen Sie mir dann, ob Sie noch die Identität des Paares bezweifeln.«
Sie überflog die Schriftstücke und sah uns dann mit dem starren Gesicht eines verzweifelten Weibes an.
»Mr Holmes!«, rief sie endlich. »Dieser Mann hatte mir die Ehe versprochen, unter der Bedingung, dass ich meine Scheidung durchsetzen könnte. Er hat mich belogen, der Schurke – hat mich auf jede erdenkliche Weise belogen! Kein wahres Wort hat er mir gesagt. Und warum – warum? Ich bildete mir ein, alles geschehe um meinetwillen. Und nun sehe ich, dass ich immer nur ein Werkzeug in seiner Hand war. Warum sollte ich ihm Treue bewahren – er hat mich stets betrogen! Warum sollte ich von ihm die Folgen seiner verruchten Taten abzuwenden suchen? Fragen Sie mich nach allem, was Sie zu wissen wünschen – ich werde nichts, gar nichts verschweigen. Und eins schwöre ich Ihnen: Als ich jenen Brief schrieb, dachte ich nicht daran, dem alten Herrn, der stets mein großmütigster Freund gewesen war, irgendetwas zuleide tun zu wollen!«
»Davon bin ich vollkommen überzeugt, Madame«, antwortete Sherlock Holmes. »Die Erzählung der ganzen Vorgänge möchte sehr peinlich für Sie sein; vielleicht ist es Ihnen angenehmer, wenn ich die verschiedenen Punkte angebe. Wenn ich dabei einen Irrtum begehe, können Sie mich berichtigen. Die Absendung des Briefes war Ihnen von Stapleton vorgeschlagen?«
»Er diktierte ihn mir.«
»Als Grund gab er vermutlich an, Sir Charles würde Ihnen mit einem Darlehen beistehen, um die Gerichtskosten Ihres Scheidungsprozesses decken zu können.«
»Ganz recht.«
»Als Sie dann den Brief abgesandt hatten, redete er Ihnen zu, Sie sollten lieber nicht hingehen?«
»Er sagte mir, es verwunde seinen Stolz, dass ein anderer das Geld zu einem solchen Zweck hergebe; er sei zwar selber ein armer Mann, aber er wolle den letzten Schilling hergeben, um die Hindernisse zu beseitigen, die uns trennten.«
»Er ist augenscheinlich ein sehr zielbewusster Charakter … Und dann hörten Sie nichts mehr, als bis Sie den Bericht über Sir Charles’ Tod in der Zeitung lasen?«
»Nein.«
»Und er ließ Sie schwören, dass Sie nichts von Ihrer Verabredung mit Sir Charles sagen wollten?«
»Ja. Er sagte, der Tod sei ein sehr geheimnisvoller, und ich würde sicherlich in Verdacht geraten, wenn von der Verabredung etwas bekannt würde. Er machte mir furchtbar bange – und ich blieb still.«
»So dachte ich’s mir. Aber Sie hatten einen gewissen Verdacht?«
Sie zögerte und schlug die Augen nieder. Nach einer Pause aber antwortete sie:
»Ich kannte ihn. Aber wenn er mir sein Wort gehalten hätte, würde ich ihm das meinige nie und nimmer gebrochen haben.«
»Ich glaube, Sie können von Glück sagen, dass Sie so davongekommen sind!«, rief Sherlock Holmes. »Sie haben ihn in Ihrer Gewalt gehabt; er wusste das – und Sie sind trotzdem noch am Leben. Sie sind monatelang dicht am Rande des Abgrundes entlang gegangen … Wir müssen nun gehen, Mrs Lyons. Wahrscheinlich werden Sie binnen ganz kurzer Zeit wieder von uns hören. Guten Morgen …«
»Unser Fall rundet sich immer mehr ab, und eine Schwierigkeit nach der anderen
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