Sherlock Holmes - gesammelte Werke
mit Ihnen sprechen, Brad Street?«
»Gewiss, Mr Holmes. Treten Sie nur hier in mein Zimmer ein.«
Es war ein kleiner, büromäßig ausgestatteter Raum, ein riesiges Hauptbuch lag auf dem Tisch, und ein Telefon ragte aus der Wand hervor. Der Inspektor setzte sich an sein Pult.
»Womit kann ich dienen, Mr Holmes?«
»Ich komme wegen jenes Bettlers, Boone, wissen Sie, des Menschen, der im Verdacht steht, bei dem Verschwinden des Mr Neville St. Clair aus Lee beteiligt zu sein.«
»Ja, der wurde hereingebracht und soll noch weiter verhört werden.«
»Das ist mir gesagt worden. Haben Sie ihn hier?«
»Ja, in einer Zelle.«
»Ist er ruhig?«
»Ja, der macht wenig Mühe, aber ein schmutziger Kerl ist er.«
»Schmutzig?«
»Freilich, und wir können ihn kaum dazu bringen, dass er sich die Hände wäscht, ein Gesicht hat er, so schwarz wie ein Kesselflicker. Nun, sobald einmal das Verfahren im Gang ist, bekommt er sein regelrechtes Gefängnisbad, und meiner Treu, wenn Sie ihn sähen, Sie würden mir beistimmen, dass er dessen bedarf.«
»Sehr gern möchte ich ihn sehen!«
»Wirklich? Das lässt sich leicht machen. Kommen Sie nur mit. Ihre Tasche kann hier bleiben.«
»Nein, danke, ich nehme sie lieber mit.«
»Auch recht. Hierher, bitte.« Er führte uns einen Gang hinunter, öffnete eine verriegelte Tür, stieg eine Wendeltreppe hinab und brachte uns auf einen weiß getünchten Korridor, an dessen beiden Seiten eine Reihe von Türen war.
»Die dritte rechts führt zu ihm«, sagte der Inspektor. »Hier, diese ist’s.« Sachte zog er einen Schieber im oberen Teil der Tür zurück und blickte durch die Öffnung.
»Er schläft«, sagte er. »Jetzt können Sie ihn bequem sehen.« Wir näherten uns beide und sahen durch das Gitter. Der Gefangene hatte das Gesicht uns zugewandt und lag in tiefem Schlaf da, langsam und schwer atmend. Er war ein mittelgroßer Mann, derb gekleidet, wie es für seinen Beruf passte, und durch die Risse seines zerlumpten Rockes kam sein buntes Hemd zum Vorschein. Der Inspektor hatte recht gehabt, wenn er den Gefangenen außerordentlich schmutzig nannte, aber die dicke Schmutzkruste, die sein Gesicht bedeckte, war nicht imstande, seine abschreckende Hässlichkeit zu verhüllen. Eine alte Schramme lief in einem breiten Striemen vom Auge bis zum Kinn und hatte bei der Vernarbung die Oberlippe derart hinaufgezogen, dass drei Zähne unbedeckt blieben, was aussah, wie ein beständiges Grinsen. Ein dichter Busch gelbroten Haares fiel ihm tief über Augen und Stirn.
»Ist er nicht der reinste Adonis?«, spottete der Inspektor.
»Jedenfalls ist er des Waschens bedürftig«, bemerkte Holmes, »und da ich dies vermutete, erlaubte ich mir, das hierzu Notwendige mitzubringen.« Damit öffnete er seine Ledertasche und zog zu meinem Staunen einen sehr großen Badeschwamm hervor.
»Ha, ha!«, lachte der Inspektor, »was für ein drolliger Mensch Sie sind!«
»Wenn Sie jetzt die große Güte haben wollten, diese Tür recht vorsichtig zu öffnen, dann soll er uns bald ein anständigeres Gesicht schneiden.«
»Nun, schaden kann’s nichts«, sagte der Inspektor. »Er macht sonst dem Zellengefängnis der Bow Street wenig Ehre.« Er steckte den Schlüssel in das Schloss, und wir traten alle leise ein. Der Schläfer machte eine kleine Wendung, versank aber sofort wieder in tiefen Schlaf. Holmes ging zum Wasserkrug, tauchte seinen Schwamm ein und fuhr zweimal kräftig über das Gesicht des Gefangenen.
»Meine Herren, gestatten Sie mir, Sie dem Mr Neville St. Clair aus Lee in der Grafschaft Kent vorzustellen«, rief Holmes laut.
Noch nie in meinem Leben habe ich solchen Anblick gehabt. Das Gesicht des Mannes schälte sich unter dem Schwamm ab, wie die Rinde vom Baum. Weg war die hässliche braune Farbe! Weg war die entsetzliche Schramme, und weg die verzerrte Oberlippe, die dem Gesicht den abschreckenden, hämischen Ausdruck gegeben hatte! Ein fester Griff entfernte das wirre, rote Haar, und vor uns saß auf dem Bett ein blasser, trauriger, fein aussehender Herr, mit schwarzem Haar und zarter Haut, der sich die Augen ausrieb und schlaftrunken um sich blickte. Dann wurde er sich plötzlich seiner Lage bewusst und begrub, laut aufschreiend, sein Gesicht in dem Kopfkissen.
»Großer Gott!«, rief der Inspektor aus, »das ist ja wirklich der Vermisste. Ich erkenne ihn der Fotografie nach.«
Der Gefangene wandte sich mit der Gelassenheit eines Menschen, der sich in sein Geschick ergibt, um. »So sei es
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