Sherlock Holmes - gesammelte Werke
denn«, sprach er. »Und nun, bitte, sagen Sie mir, wessen beschuldigt man mich?«
»Mr Neville St. Clair auf die Seite geschafft zu haben – doch wahrhaftig, dessen kann man Sie nicht mehr bezichtigen, es wäre denn, dass das Gericht eine Anklage auf versuchten Selbstmord aus dem Fall machen wollte«, sagte der Inspektor lachend. »Seit siebenundzwanzig Jahren bin ich jetzt im Dienst, doch so etwas ist mir noch nicht vorgekommen.«
»Wenn ich Neville St. Clair bin, so liegt es klar zu Tage, dass ich keinen Mord begangen habe, wohl aber, dass man mich widerrechtlich hier festhält.«
»Kein Verbrechen, wohl aber ein großer Irrtum hat hier stattgefunden«, sprach Holmes. »Sie hätten besser daran getan, Ihrer Frau zu vertrauen.«
»Nicht um meiner Frau, sondern um meiner Kinder willen ist’s geschehen«, stöhnte der Gefangene. »Wahrhaftiger Gott, sie sollten sich nicht ihres Vaters wegen schämen müssen. Oh Gott, welche Schmach! Was kann ich machen?«
Sherlock Holmes setzte sich zu ihm aufs Bett und legte ihm freundlich seine Hand auf die Schulter.
»Wenn Sie es dem Gerichtshof überlassen, die Sache zu erledigen«, sagte er, »so wird sie natürlich an die Öffentlichkeit kommen. Vermögen Sie dagegen der Polizeibehörde zu beweisen, dass keinerlei Grund zu einer Anklage gegen Sie vorliegt, so weiß ich nicht, wie diese Geschichte ihren Weg in die Presse finden sollte. Inspektor Brad Street wird gewiss bereit sein, alles niederzuschreiben, was Sie uns sagen wollen, und hernach Ihre Aussagen der betreffenden Behörde mitteilen. Auf diese Weise gelangt dann der Fall gar nicht an den Gerichtshof.«
»Gott segne Sie!«, rief der Gefangene leidenschaftlich aus. »Gefängnis, ja Hinrichtung hätte ich eher ausgehalten, als dass ich mein erbärmliches Geheimnis verraten und Schande über meine Kinder gebracht hätte.
Sie sind die ersten, denen ich meine Geschichte erzähle. – Mein Vater war Schullehrer in Chesterfield, wo ich eine ausgezeichnete Erziehung erhielt. In meiner Jugend machte ich Reisen, ging zur Bühne und wurde schließlich Berichterstatter für ein Londoner Abendblatt. Eines Tages wünschte der Leiter unserer Zeitung einige Artikel über das Bettlertum in London, und ich verpflichtete mich, sie ihm zu liefern. Dies war der Ausgangspunkt für alle meine Abenteuer. Nur wenn ich das Bettlerhandwerk selbst versuchte, konnte ich ja das nötige Material für meine Artikel erhalten. Als Schauspieler war ich natürlich in alle Geheimnisse der Verkleidung eingeweiht, ja, ich war seinerzeit unter meinesgleichen wegen meiner Verstellungskunst berühmt gewesen. Jetzt kam mir meine Geschicklichkeit zugute. Ich schminkte mir das Gesicht, und um mich so bemitleidenswert als möglich zu machen, malte ich mir eine tüchtige Schramme hin und zog die Oberlippe mit einem schmalen Streifen fleischfarbenen Heftpflasters in die Höhe. Des weiteren noch mit einer roten Perücke und entsprechender Kleidung ausgestattet, stellte ich mich im belebtesten Stadtteil auf, zum Schein als Streichholzhändler, in Wahrheit aber als Bettler. Sieben Stunden ging ich meinem Geschäft nach, und als ich am Abend heimkehrte, entdeckte ich zu meiner Überraschung, dass ich nicht weniger als sechsundzwanzig Schilling und vier Pence ersammelt hatte.
Ich schrieb meine Artikel und dachte wenig über die Sache nach, bis ich bald darauf für einen Freund einen Wechsel von 25 Pfund, den ich unterschrieben hatte, einlösen musste. Ich war völlig ratlos, wo ich das Geld auftreiben sollte, da kam mir plötzlich ein rettender Gedanke. Mein erstes war, den Gläubiger um vierzehn Tage Verlängerung anzugehen, dann erbat ich mir Urlaub und verbrachte diese Zeit in meiner einstigen Verkleidung als Bettler in der Stadt. In zehn Tagen war das Geld beisammen und meine Schuld bezahlt.
Nun können Sie sich denken, wie schwer es mir ankam, mich wieder zu angestrengter Arbeit mit einem wöchentlichen Gehalt von zwei Pfund zu bequemen, da ich doch wusste, dass mir ein bisschen Schminke, Stillesitzen und die Mütze auf die Erde stellen in einem einzigen Tag ebenso viel eintrug. Zwischen meinem Stolz und meiner Geldgier entstand ein langer Kampf, bei dem schließlich die letztere den Sieg davontrug. So hängte ich denn die Zeitungsschreiberei an den Nagel und saß Tag für Tag in der Ecke, die ich mir gleich zu Anfang ausersehen hatte, erregte durch mein jammervolles Aussehen Mitleid und füllte meine Taschen mit Kupfermünzen. Nur ein einziger Mensch
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