Sherlock Holmes - gesammelte Werke
Anschauung vollkommen und nicht minder Ihre Hoffnung, dass wir den Beweis dafür erbringen werden«, entgegnete Holmes, indem er nochmals zur Fußmatte zurückging, um den Schnee von seinen Schuhen abzuklopfen. »Ich habe wohl die Ehre, mit Miss Mary Holder zu sprechen. Dürfte ich vielleicht eine oder zwei Fragen an Sie richten?«
»Gewiss, wenn es zur Aufklärung dieser schrecklichen Sache dienen kann.«
»Sie haben vergangene Nacht selbst nichts gehört?«
»Nichts, bis mein Oheim hier laut zu sprechen anfing. Das hörte ich, und daraufhin kam ich herunter.«
»Sie haben am Abend vorher die Fenster und Türen verschlossen. Haben Sie sämtliche Fenster fest zugemacht?«
»Jawohl.«
»Waren dieselben heute früh noch alle fest zu?«
»Gewiss.«
»Eines Ihrer Dienstmädchen hat einen Liebhaber? Sie machten, soviel ich weiß, gestern Abend Ihren Oheim darauf aufmerksam, dass sie das Haus verlassen hätte, um mit ihm zusammenzutreffen.«
»Jawohl, und sie war es eben, die im Wohnzimmer bediente und die dabei vielleicht Onkels Äußerung über den Schmuck mit angehört hat.«
»Aha. Sie vermuten, sie habe dies ihrem Liebhaber mitgeteilt und darauf haben dann die beiden zusammen den Diebstahl verabredet.«
»Aber was sollen denn diese unbestimmten Vermutungen«, rief der Bankier ungeduldig dazwischen, »wenn ich Ihnen doch sage, dass ich sah, wie Arthur den Schmuck in der Hand hatte.«
»Gedulden Sie sich ein wenig, Mr Holder, wir müssen noch darauf zurückkommen. Was dieses Mädchen anbelangt, Miss Holder, so sahen Sie mit an, wie es wieder zur Küchentür hereinkam, nicht wahr?«
»Jawohl. Als ich eben nachsehen wollte, ob die Tür gut geschlossen sei, schlüpfte sie herein; ich bemerkte auch den Mann draußen im Dunkeln.«
»Kennen Sie ihn?«
»Oh freilich, es ist ein Gemüsehändler, der uns den Küchenbedarf ins Haus liefert. Er heißt Francis Prosper.«
»Er stand«, fuhr Holmes fort, »links von der Tür, etwas weiter unten an der Hecke?«
»Allerdings.«
»Und er hat einen Stelzfuß!«
Hier blitzte etwas wie Angst in den ausdrucksvollen Augen der jungen Dame auf. »Sie sind ja ein wahrer Hexenmeister«, sagte sie, »woher wissen Sie das?« Dabei lächelte sie, aber auf Holmes’ magerem, scharfgeschnittenem Gesicht fand dies Lächeln keine Erwiderung.
»Ich möchte nun sehr gerne in den oberen Stock gehen. Nachher werde ich voraussichtlich noch einmal die Runde um das Haus machen müssen. Vielleicht ist es übrigens zweckmäßiger, ich besichtige die Fenster unten, ehe ich hinaufgehe.«
Rasch ging er von einem zum anderen; nur bei dem einen großen Fenster, das vom Hausgang zum Gässchen hinaussah, hielt er sich länger auf. Dies öffnete er und untersuchte die Fensterbank aufs Sorgfältigste mit einem starken Vergrößerungsglas. »Jetzt wollen wir hinaufgehen«, sagte er endlich.
Des Bankiers Ankleidezimmer war ein einfach ausgestatteter kleiner Raum, mit einem grauen Teppich belegt, und enthielt einen großen Schreibtisch und einen hohen Spiegel. Holmes ging zunächst auf den Schreibtisch zu und unterzog das Schloss einer genauen Besichtigung.
»Mit welchem Schlüssel ist es geöffnet worden?«, fragte er.
»Mit dem Schlüssel zum Buffet unten, den mein Sohn selbst bezeichnet hat.«
»Haben Sie ihn hier?«
»Dort liegt er auf dem Toilettentisch.«
Holmes nahm ihn und schloss den Schreibtisch damit auf. »Er schließt lautlos. Kein Wunder, dass Sie nicht davon aufwachten. In diesem Etui hier befindet sich wohl der Schmuck. Wir müssen einen Blick darauf werfen.« Er öffnete das Etui, nahm den Schmuck heraus und legte ihn auf den Tisch. Es war ein Prachtstück der Goldschmiedekunst, und die sechsunddreißig Steine waren die schönsten, die ich je gesehen. An dem einen Ende war ein Stück abgebrochen; es fehlte eine Zacke mit drei Steinen.
»Nun, Mr Holder«, sagte Holmes, »dies hier ist die Zacke, die der in so bedauerlicher Weise abhanden gekommenen entspricht. Dürfte ich Sie bitten, dieselbe abzubrechen?«
Der Bankier wich vor Schrecken einen Schritt zurück. »Es fällt mir nicht im Traum ein, so etwas zu versuchen«, versetzte er.
»Dann will ich es tun.« Holmes versuchte seine ganze Stärke daran, allein ohne Erfolg. »Ich fühle, dass es ein wenig nachgibt«, sagte er; »aber obwohl ich ungewöhnlich große Kraft in den Fingern habe, würde ich doch geraume Zeit brauchen, es zu zerbrechen. Ein gewöhnlicher Mensch wäre dazu gar nicht imstande.«
»Ich weiß nicht, was
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