Sherlock Holmes - gesammelte Werke
krampfhaften Zuckungen, welche mit jeder Verletzung des Gehirns verbunden zu sein pflegen, die Schnittwunde mit seinem eigenen Messer beigebracht hat?«
»Nicht nur möglich, sondern höchst wahrscheinlich«, versetzte Holmes. »In diesem Fall wird einer der Hauptpunkte hinfällig, welcher zugunsten des Angeklagten spricht.«
»Und doch«, erwiderte ich, »bin ich noch ganz im Dunkeln darüber, wie sich die Polizei die Sache vorstellt.«
»Ich fürchte, es werden sich gegen jede Theorie, die wir vorbringen könnten, gewichtige Einwendungen erheben«, sagte mein Gefährte. »Die Polizei ist, glaube ich, der Ansicht, dass Simpson, nachdem er dem Stallknecht das Schlafmittel verabreicht hatte, sich mittels eines Nachschlüssels, den er sich irgendwie zu verschaffen gewusst, in den Stall geschlichen hat, um das Pferd zu rauben. Er muss ihm auch den Zaum angelegt haben, da dieser sich nicht vorfindet. Während er nun, die Stalltür offen lassend, das Tier über das Moor davonführte, kam ihm Straker entgegen oder holte ihn ein. Natürlich entspann sich ein Kampf, bei dem Simpson seinen Gegner mit dem schweren Stock erschlug, ohne von ihm mit dem Messer verwundet zu werden, das Straker als Verteidigungswaffe gebrauchte. Hierauf gelang es dem Dieb entweder, das Pferd in ein geheimes Versteck zu bringen, oder es hat sich losgerissen und läuft nun in der Irre auf dem Moor umher. – So denkt sich die Polizei den Fall, und trotz vieler Unwahrscheinlichkeiten, auf die wir bei dieser Erklärung stoßen, ist sie noch die wahrscheinlichste von allen. Sobald ich an Ort und Stelle bin, werde ich der Sache übrigens besser auf den Grund sehen können, einstweilen müssen wir, wohl oder übel, auf dem Standpunkt stehen bleiben, den wir jetzt einnehmen.«
Erst gegen Abend kamen wir in dem Städtchen Tavistock an, das mitten in dem großen Rund von Dartmoor liegt wie der Buckel an einem Schild. Zwei Herren erwarteten uns am Bahnhof, der eine groß und blond, mit Haar und Bart wie eine Löwenmähne und scharfen, hellblauen Augen, der andere, ein kleiner beweglicher Mann im Überrock und Gamaschen, sehr geschniegelt und gebügelt, mit kurzgeschnittenem Backenbart und eingekniffenem Augenglas. Dies war Oberst Ross, der wohlbekannte Sportsmann, jener aber Polizeiinspektor Gregory, der sich im Dienst der englischen Geheimpolizei rasch einen Namen gemacht hatte.
»Ich bin sehr froh, dass Sie gekommen sind, Mr Holmes«, sagte der Oberst. »Zwar hat der Inspektor alles nur Erdenkliche getan, aber ich möchte nichts unversucht lassen, um den Tod des armen Straker zu sühnen und wieder in den Besitz meines Pferdes zu gelangen.«
»Haben Sie irgendeine neue Spur entdeckt?«, fragte Holmes.
»Leider sind wir nur wenig vorwärtsgekommen«, entgegnete der Inspektor. »Draußen wartet ein offener Wagen auf uns«, fuhr er fort, »Sie werden gewiss den Schauplatz sehen wollen, ehe es dunkel wird, und wir können das Nähere während der Fahrt besprechen.«
Gleich darauf saßen wir alle in dem bequemen Landauer und rollten durch die Straßen des altertümlichen Städtchens. Inspektor Gregory hatte nichts als den Fall im Kopf und goss die ganze Flut seiner Betrachtungen über uns aus, während Holmes nur dann und wann eine Frage oder einen Ausruf dazwischenwarf. Oberst Ross lehnte sich in den Sitz zurück, schlug die Arme unter, drückte seinen Hut tief ins Gesicht und lauschte eifrig dem Gespräch der beiden Männer. Gregorys Auffassung von der Sache stimmte fast genau mit dem überein, was mir Holmes im Zug zum Voraus berichtet hatte.
»Das Netz hat sich schon ziemlich dicht um Fitzroy Simpson zusammengezogen«, schloss der Inspektor, »und ich für meine Person zweifle nicht, dass er der Täter ist. Bei alledem muss ich jedoch zugeben, dass diese Annahme nur auf Indizienbeweisen beruht, die durch eine neue Enthüllung unhaltbar gemacht werden können.«
»Und wie steht’s mit Strakers Messer?«
»Wir sind zu dem sichern Schluss gelangt, dass er sich selbst verwundet hat, als er zu Boden fiel.«
»Mein Freund Watson hat sich bei unserer Herfahrt auch in diesem Sinne geäußert. Dadurch würde der Verdacht gegen Simpson bedeutend erhöht.«
»Natürlich, denn bei ihm hat man weder ein Messer noch Spuren einer Verletzung gefunden. Doch liegen auch andere sehr starke Beweise gegen ihn vor. Sein großes Interesse am Verschwinden des Renners, sein Versuch, den Stallknecht zu vergiften, der Umstand, dass er in der Regennacht draußen war, der
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