Sherlock Holmes - gesammelte Werke
mich, und ich habe sie seitdem nicht wiedergesehen.
›So, jetzt wissen Sie alles, was ich der Polizei vorenthalten habe, weil ich keine Ahnung von der Gefahr hatte, die meine Freundin bedroht. Ich weiß, es kann ihr nur zum Vorteil gereichen, wenn man die volle Wahrheit erfährt.‹
Wie Sie sich denken können, Watson, war Miss Morrisons Aussage für mich ein Lichtstrahl in dunkler Nacht. Alles, was bisher außer Zusammenhang schien, ließ sich jetzt mit Leichtigkeit aneinanderreihen, und ich hatte eine Art Vorgefühl von dem ganzen Verlauf der Sache. Mein nächster Schritt musste natürlich sein, den Mann aufzusuchen, der solchen merkwürdigen Eindruck auf Mrs Barclay gemacht hatte. Hielt er sich noch in Aldershot auf, konnte das nicht schwer sein. Dort wohnen verhältnismäßig nur wenige Leute aus dem Bürgerstand, und ein Krüppel wäre sicherlich nicht unbemerkt geblieben. Ich verbrachte einen ganzen Tag auf der Suche, und zur Nachtzeit hatte ich ihn gefunden. Das war erst heute Abend, Watson. Der Mann heißt Henry Wood und wohnt zur Miete in der nämlichen Straße, wo ihm die Damen begegnet sind. Erst seit fünf Tagen ist er hier am Ort. Ich stellte mich der Wirtin als Beamter vor, der die Wohnungslisten auszufüllen hat, und wir plauderten allerlei miteinander. Der Mann ist von Beruf Taschenspieler und Zauberkünstler; er geht bei einbrechender Nacht in den Schenken herum und gibt Vorstellungen. In seinem Kasten trägt er ein Tier, vor dem die Wirtin in großer Angst zu schweben scheint, weil sie noch nie ein solches Geschöpf gesehen hat. Er braucht es bei seinen Kunststücken, wie sie mir sagt. Sie meinte auch, sie begriffe gar nicht, wie der Mann mit seinen verkrümmten Gliedmaßen überhaupt leben könne; manchmal rede er in einer ganz fremdartigen Sprache, und während der beiden letzten Nächte hätte sie ihn in seinem Schlafzimmer stöhnen und schluchzen hören. An Geld mangle es ihm nicht, er habe ihr auch eine Summe in Verwahrung gegeben, und darunter sei eine seltene Münze. Sie zeigte mir das Geldstück, und denken Sie sich nur, Watson, es war eine Indische Rupie.
Nun wissen Sie also genau, wie die Sachen stehen, mein werter Freund, und wozu ich Sie brauche. Es liegt auf der Hand, dass der Mann den Damen an jenem Abend von fern gefolgt ist und den Streit zwischen den Ehegatten durch das Fenster gesehen hat. Er lief herzu, und das Tier entsprang aus seinem Kasten. Das alles unterliegt keinem Zweifel, aber was dann im Zimmer geschehen ist, vermag uns kein Mensch auf der Welt genau zu berichten außer ihm allein.«
»Und du willst ihn darum befragen?«
»Ganz gewiss – aber in Gegenwart eines Zeugen.«
»Der Zeuge soll
ich
sein?«
»Ja, wenn Sie nichts dagegen haben. Kann er die Sache aufklären, so ist es mir recht. Weigert er sich, so bleibt uns keine Wahl, als einen Haftbefehl zu holen.«
»Woher wissen Sie aber, dass er noch da sein wird, wenn wir ihn aufsuchen?«
»Ich habe schon meine Maßregeln getroffen. Ein paar von meinen Jungs aus der Baker Street sind für ihn als Wache bestellt und würden sich wie die Kletten an ihn hängen, wohin er auch ginge. Wir finden ihn morgen in der Hudson Street, Watson. Jetzt aber würde ich selbst ein Verbrechen begehen, wenn ich Sie nicht endlich zur Ruhe kommen ließe.«
Wir gönnten uns nur wenige Stunden Schlaf; schon um die Mittagszeit befanden wir uns zusammen auf dem Schauplatz des Trauerspiels und schlugen sofort den Weg zur Hudson Street ein. Wie gut es auch Holmes sonst verstand, seine Gemütsbewegung zu verbergen, so merkte ich ihm doch jetzt die mühsam unterdrückte Aufregung an; auch ich empfand etwas von der Spannung des Jägers und zugleich einen gewissen geistigen Genuss, den mir die Teilnahme an seinen Untersuchungen stets bereitet.
»Hier ist die Straße«, sagte er, als wir um die Ecke bogen und eine kurze Querstraße mit zweistöckigen Backsteinhäusern vor uns sahen.
»Und da kommt auch Simpson, mir Bericht zu erstatten.«
»Er ist drinnen, Mr Holmes«, rief ein kleiner Gassenjunge, der uns entgegengelaufen kam.
»Brav, Simpson«, sagte mein Freund, ihm das Haar streichelnd. »Kommen Sie jetzt, Watson; dies ist das Haus.« Er schickte seine Karte hinein und ließ sagen, es handle sich um die Besprechung einer wichtigen Angelegenheit.
Wenige Minuten später standen wir dem Mann gegenüber, um dessentwillen wir die Fahrt unternommen hatten. Trotz des warmen Wetters hockte er am Feuer, und das Zimmer war so warm wie ein
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